Guido Guerrieri 01 - Reise in die Nacht
antwortete ich, ohne zu überlegen. Und fand im Sprechen die Antwort auf ihre Frage.
»Ich glaube, weil ich mich irgendwie in ihm wieder erkenne.«
Meine Antwort schien sie zu beeindrucken, denn sie starrte wortlos auf den Boden, irgendwo nach links unten. Offensichtlich beschäftigte sie etwas. Ich betrachtete sie, bis sie fertig war, bis sie wieder etwas sagte.
»Ich würde gern mitkommen. Darf ich?«
»Natürlich darfst du. Die nächste Sitzung ist kommenden Montag.«
»Kann ich vorher die Prozessakten lesen?«
Ich musste unwillkürlich lächeln. Ich weiß nicht, warum, aber ich dachte, sie trifft immer genau ins Schwarze. Mir fielen die Handbücher über Kampfsport ein, die in ihrem Regal standen. Ich hatte sie nicht gefragt, weshalb sie dort standen, ob sie vielleicht eine dieser Disziplinen beherrschte und welche. Ich tat es jetzt.
»Du kannst die Akten lesen, wann du möchtest. Ich kann sie dir nach Hause bringen, aber vielleicht ist es einfacher, du kommst zu mir ins Büro. Das ist ein gewaltiger Berg Papier. Interessierst du dich eigentlich für Kampfsport? Ich meine, du hast so viele Bücher darüber...«
»Ich mache ein bisschen Aikido, seit ich mit dem Trinken aufgehört habe.«
»Was heißt ein bisschen?«
»Schwarzer Gürtel, zweiter Dan.«
»Ich würde dich gern mal in Aktion erleben.«
»Gut, dann komm rein.«
Wir gingen in ihr Wohnzimmer, sie schaltete den Videorecorder ein, holte eine Kassette aus dem Schrank, und sagte »Setz dich«.
Das Video begann mit der Aufnahme eines Sportstudios im japanischen Stil, kahl, mit nichts als einer grünen Tatamimatte. Im Hintergrund hörte man eine Stimme etwas sagen, was ich nicht verstand. Daraufhin erschien eine junge Frau in weißem Kimono und weitem, schwarzem Hosenrock. Ihre Haare waren zu einem Pferdeschwanz zusammengebunden. Ich brauchte ein paar Sekunden, bis ich Margherita erkannte. Sie blickte in eine bestimmte Richtung, aus der nun ein Mann in derselben Kleidung trat. Er packte sie am Kragen ihrer Jacke; sie umklammerte seine Hand und drehte sich auf den Beinen. Sie bewegte sich wie in Zeitlupe, aber ich begriff trotzdem nicht richtig, wie der Mann mit einem leisen Rauschen auf der Matte landete. Kaum am Boden, rollte er sich wieder auf die Beine, drehte sich um und griff erneut an. Seine offene Hand näherte sich Margheritas Kopf. Wieder eine Drehung, wieder so eine unbegreifliche Bewegung, und der Mann flog erneut durch die Luft, wobei seine weite schwarze Hose elegante Figuren im Raum zeichnete. Es folgten weitere Sequenzen, in denen die Angreifer Stöcke oder Messer hatten oder zu zweit attackierten.
Ein absolut fesselndes Spektakel, das rund zwanzig Minuten dauerte. Dann nahm Margherita die Kassette heraus und verstaute sie wieder im Schrank. Sie hatte die ganze Zeit über nichts gesagt. Ich auch nicht. Und wir schwiegen auch danach noch eine ganze Weile, dabei passierte es mir – möglicherweise zum ersten Mal in meinem Leben -, dass mir ein Schweigen nicht unangenehm war. Ich hatte nicht, wie sonst immer, das Bedürfnis, es mit meiner Stimme oder irgendeinem anderen Geräusch zu überbrücken. Es war mir, als erahnte ich sein zartes, fließendes Muster. Es ist eine Art Musik, dachte ich in diesem Augenblick.
Als der Moment gekommen war, zu gehen, merkte ich, dass ich die ganze Zeit über – vor und nach der Kassette – vor allem ihre Arme betrachtet hatte; ihre golden schimmernde Haut, die langen, kräftigen Muskeln. Ich hatte die feinen, blonden Härchen auf ihren Vorderarmen betrachtet, wie sie sich aufrichteten, wenn eine kühle Brise über die Terrasse strich.
»Du hast sehr schöne Arme...«, sagte ich, als wir in der Tür standen. Ich habe einen starken Hang zu halbfertigen Sätzen und zu Halbfertigem schlechthin, aber diesen Satz wollte ich so nicht im Raum stehen lassen. Also vervollständigte ich ihn.
»Du bist überhaupt eine sehr schöne Frau.«
»Danke. Und du bist ein sehr schöner Mann. Du lächelst nicht oft, aber wenn du es tust, siehst du wunderschön aus. Du hast das Lächeln eines kleinen Jungen.«
Dergleichen hatte noch niemand zu mir gesagt.
6
D er Termin, der am darauf folgenden Montag stattfinden sollte, war von großer, wenn nicht entscheidender Bedeutung. An diesem Tag sollte neben dem Carabiniere, der die wichtigsten Ermittlungen durchgeführt und dem Gerichtsmediziner, der die Autopsie vorgenommen hatte, auch der Besitzer der Bar Maracaibo angehört werden, der behauptete, Abdou kurz vor dem
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