Guido Guerrieri 01 - Reise in die Nacht
Kopf und wandte sich den Richtern zu.
»Hohes Gericht, verehrte Schöffen. Sie sind heute dazu aufgerufen, über ein entsetzliches Verbrechen zu urteilen. Ein junger Mensch, ein Kind, wurde auf brutale Weise mitten aus dem Leben gerissen. Grund und Ausmaß dieses schändlichen Verbrechens sind für uns kaum nachvollziehbar, seine schrecklichen Folgen leider nicht mehr gutzumachen. Keiner kann dieses Kind seinen Eltern zurückgeben. Ich nicht, Sie nicht, niemand. Das liegt nicht in unserer Gewalt.
Etwas anderes, etwas ungeheuer Wichtiges, liegt aber sehr wohl in Ihrer Gewalt, und ich hoffe, ja, ich bin mir sicher, dass Sie es verstehen werden, richtig damit umzugehen.«
Ich dachte: Jetzt sagt er gleich, dass es in ihrer Gewalt liegt, für Gerechtigkeit zu sorgen, und dass es ihre heilige Pflicht ist, zu verhindern, dass der Verantwortliche eines so scheußlichen Verbrechens womöglich aufgrund irgendeiner Spitzfindigkeit ungeschoren davonkommt et cetera, et cetera.
»Es liegt in Ihrer Gewalt, für Gerechtigkeit zu sorgen. Mehr noch, es ist Ihre Pflicht – eine höchst verantwortungsvolle Pflicht – für Gerechtigkeit zu sorgen. Gerechtigkeit walten zu lassen. An erster Stelle natürlich gegenüber der Familie des jungen Opfers. Aber auch gegenüber uns allen, die wir als Bürger dieses Landes erwarten, dass Gräueltaten dieser Art geahndet werden.«
Das war einer seiner Lieblingssätze, wenn er vor dem Schwurgericht auftrat. Ich glaube, er meinte, damit die Schöffen beeindrucken zu können. Wie auch immer, es ging in diesem Stil weiter, und ich war bald nicht mehr bei der Sache.
Die meiste Zeit nahm ich Cervellatis Stimme nur noch als diffuses Gemurmel im Hintergrund wahr. Hin und wieder hörte ich ein paar Minuten zu, dann schweiften meine Gedanken erneut ab.
Er sprach darüber, was seiner Ansicht nach während der Verhandlung herausgekommen war, las mit monotoner Stimme lange Absätze aus den Protokollen vor und erklärte, warum die von der Anklage vorgebrachten Beweise über jeden Zweifel erhaben waren, und zwar ausnahmslos.
Eines der langweiligsten Plädoyers, das ich je gehört habe, dachte ich, während ich zerstreut in meinen Unterlagen blätterte.
Irgendwann kam er auf die Zeugenaussage des Barbesitzers zu sprechen, die in gewisser Weise der Dreh- und Angelpunkt des Prozesses war.
Er verlas noch einmal die Antworten, die Renna während seiner Vernehmung vor Gericht gegeben hatte – freilich nicht die auf meine Fragen – und kommentierte sie. An dieser Stelle zwang ich mich zur Aufmerksamkeit.
»Wir müssen uns also fragen, und vor allem Sie müssen sich fragen: Hatte der Zeuge Renna einen Grund – und wenn, welchen – den Angeklagten zu Unrecht zu bezichtigen? Denn sehen Sie, die Sache ist im Grunde simpel: Entweder, der Zeuge Renna hat gelogen und damit bewusst den Grundstein für die lebenslängliche Haft eines Unschuldigen gelegt – denn über die möglichen Folgen seiner Aussage ist er sich im Klaren -, oder aber er hat nicht gelogen. Wir alle haben mitbekommen, dass Herr Renna während des Kreuzverhörs durch den Verteidiger ein wenig ins Wanken geriet. Nichtsdestotrotz hat er seine Aussage bekräftigt. Würde er lügen und einen de facto Unschuldigen fälschlicherweise des Mordes bezichtigen, so müsste er dafür doch einen triftigen Grund haben, meinen Sie nicht? Eine starke persönliche Abneigung gegen den Angeklagten, ja mehr noch, blinden, bodenlosen Hass, denn nur ein solcher könnte ein derart niederträchtiges Verhalten erklären.
Nun frage ich Sie: Haben wir Beweise dafür, oder besteht auch nur der leiseste Verdacht, dass Herr Renna dem Angeklagten gegenüber einen derart destruktiven Hass empfindet? Die Antwort lautet selbstverständlich nein.
Die Alternative wäre, dass Renna die Wahrheit sagt, und, wenn wir nicht das geringste Element an der Hand haben, um zu behaupten, dass er lügt, müssen wir ihm einfach glauben, selbst wenn er das ein oder andere verwechselt – was nach der langen Zeit völlig normal ist.
Was das für diesen Prozess und das anstehende Urteil bedeutet, liegt klar auf der Hand. Denn vergessen wir nicht, dass der Angeklagte bestreitet, an jenem Nachmittag oder Abend in Monopoli, in Capitolo, gewesen zu sein. Und wenn er das bestreitet, obwohl er sich de facto doch dort aufgehalten hat – wie wir zweifelsfrei behaupten können, weil es dafür einen Augenzeugen gibt, der nicht den geringsten Grund hat, zu lügen – so kann die Erklärung nur eine
Weitere Kostenlose Bücher