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Guido Guerrieri 01 - Reise in die Nacht

Guido Guerrieri 01 - Reise in die Nacht

Titel: Guido Guerrieri 01 - Reise in die Nacht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Gianrico Carofiglio
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sein, so traurig sie ist. Sie liegt vor unser aller Augen.«
    Diesen Gedankengang notierte ich mir, denn er machte Sinn und musste explizit angefochten werden.
    Cervellati setzte sein Plädoyer fort und kam, dem chronologischen Verlauf der Verhandlung folgend, schließlich auch auf die Mobiltelefondaten zu sprechen.
    Er sagte genau das, was ich mir erwartet hatte. Die von der Verteidigung beantragten Informationen bewiesen nicht nur nicht die Unschuld des Angeklagten, sondern stärkten im Gegenteil die Position der Anklage.
    Dieses Loch von annähernd fünf Stunden, in denen keine Telefonate stattgefunden hatten, weil das Gerät vermutlich abgeschaltet gewesen war, stelle ein Indiz dar, dem nachgegangen werden müsse. Es sei wahrscheinlich – sogar höchstwahrscheinlich, sagte er – dass der Angeklagte nach seiner Rückkehr aus Neapel von Bari nach Capitolo weitergefahren sei, vielleicht sogar mit einem ganz bestimmten Vorsatz oder aber in einer Art triebgesteuertem Anfall. Man durfte annehmen, dass er sein Mobiltelefon ausgeschaltet hatte, um bei seinem schändlichen Tun nicht gestört zu werden. Dies erkläre, mehr als jede andere Hypothese, den Umstand, dass zwischen siebzehn und einundzwanzig Uhr keine Anrufe verzeichnet waren.
    Auch diesen Punkt des Plädoyers notierte ich mir stichwortartig – ein heimtückisches Argument, das die Richter negativ beeinflussen konnte.
    Es folgte eine hypothetische Rekonstruktion des Tathergangs, bei der Cervellati aufzeigte, wie Abdou seinen Plan umgesetzt haben könnte, indem er das Vertrauen des ahnungslosen Kindes gemein und hinterlistig ausnützte.
    Wie es nach der Entführung weitergegangen war, konnte man sich denken. Das Kind hatte wahrscheinlich gemerkt, was Thiam mit ihm vorhatte und hatte versucht, sich gegen seinen gewalttätigen Entführer zu wehren. Vielleicht hatte es versucht, wegzulaufen, was dann die tödliche Reaktion des Angeklagten ausgelöst hatte. Spuren sexuellen Missbrauchs waren vermutlich nur deshalb nicht gefunden worden, weil die Situation vorher eskaliert war. Daran, dass der Angeklagte es letzten Endes aber auf einen solchen Missbrauch abgesehen hatte, konnte kaum gezweifelt werden.
    Abschließend legte der Staatsanwalt dar, warum die einzig angemessene Strafe für dieses Verbrechen der lebenslange Freiheitsentzug war. Es war der überzeugendste Teil seines Plädoyers, denn hätte Abdou dies alles tatsächlich getan, so wäre lebenslange Haft wirklich die gerechte Strafe gewesen.
    Während ich das dachte, beantragte Cervellati mit der üblichen Formel die Verurteilung des Angeklagten:
    »Aus den bisher genannten Gründen bitte ich Sie, den Angeklagten wegen aller ihm zur Last gelegten Straftaten schuldig zu sprechen und ihn zu einer lebenslänglichen Freiheitsstrafe zu verurteilen, davon sechs Monate in Einzelhaft, sowie dem zusätzlichen Ausschluss von öffentlichen Ämtern für den Rest seines Lebens.«
    Ich atmete einmal tief durch, sah auf die Uhr und merkte, dass fast zwei Stunden vergangen waren.
    Der Vorsitzende ordnete eine kurze Pause an, bevor er dem Nebenkläger das Wort erteilen wollte. Danach sollte es eine Stunde Mittagspause geben, und dann war ich an der Reihe. Nach Anhörung eventueller Einwände würde sich das Gericht zur Beratung zurückziehen.
    Der Gerichtssaal leerte sich, und auch ich ging hinaus, um eine Zigarette zu rauchen. Nur Cotugno blieb zurück und feilte noch ein wenig an seinem Plädoyer herum.
    Draußen wurde ich von einer Journalistin, die ich noch nie gesehen hatte, gefragt, was ich über den Antrag des Staatsanwalts dachte.
    Ich dachte, dass das eine der idiotischsten Fragen war, die ich je gehört hatte, und ich war versucht, es ihr mitzuteilen, aber natürlich tat ich das nicht. Ich sagte gar nichts, zuckte mit der Schulter, schüttelte den Kopf und hob die Hände mit nach oben gedrehten Handflächen. Dann zog ich ein Päckchen Zigaretten aus der Jackentasche und entfernte mich unter den verwunderten Blicken der jungen Frau.
    Ich war ziemlich ruhig und hatte nicht die geringste Lust, meine Notizen noch einmal durchzulesen. Ich hatte auch sonst zu nichts Lust, wenigstens nicht bis zu dem Moment, in dem ich mit meinem Vortrag dran war. Im Grunde war es auch nicht nötig.
    Das war für mich etwas Neues. Bisher war ich, wenn etwas Wichtiges anstand, immer erst in letzter Sekunde fertig geworden. Das war schon im Studium so gewesen und jetzt, im Beruf, war es nicht anders. Immer hatte ich alles bis zum letzten

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