Guido Guerrieri 01 - Reise in die Nacht
Verzögerung ein, und zwar fünf Tage nach der Sitzung, in der ihre Einholung vom Richter verfügt worden war. Ich erfuhr es von dem Carabiniere, den man mit der Ausführung des Gerichtsbeschlusses beauftragt hatte. Er war ein Freund von mir, und ich hatte ihn angerufen, um ihn zu fragen, ob die Unterlagen schon da seien. Er sagte ja, das seien sie, woraufhin ich mich zum Gericht begab, um sie einzusehen.
Es war Samstag, der erste Juli. Das Gerichtsgebäude war wie ausgestorben und die Atmosphäre leicht surreal.
Die Tür zu den Räumen des Schwurgerichts war geschlossen. Ich öffnete sie und sah, dass niemand da war, aber immerhin funktionierte die Klimaanlage. Also trat ich ein, schloss die Tür hinter mir und wartete, dass irgendjemand von irgendwoher zu mir käme, um mir Einsicht in die Unterlagen mit den Mobilfunkverbindungen zu gewähren.
Nach einer Viertelstunde erschien endlich ein kleinwüchsiger Angestellter um die sechzig, den ich nicht kannte. Er sah mich geistesabwesend an und fragte, ob er mir helfen könne. Ja, das könne er, und ich sagte ihm auch, wie. Er schien einen Augenblick zu überlegen, dann nickte er nachdenklich.
Die Suche nach den Unterlagen war aufwändig und ziemlich umständlich, aber irgendwie schaffte der Mann es schließlich doch, sie aufzustöbern.
Aus den Verbindungsdaten ging hervor, dass Abdou hinsichtlich seiner Fahrt nach Neapel mit Sicherheit die Wahrheit gesagt hatte. Das erste Telefonat war um 9.18 Uhr geführt worden, und zwar von Abdous Telefon aus. Es hatte zwei Minuten und vierzehn Sekunden gedauert. Die gewählte Nummer gehörte zum Ortsnetz Neapel, und Abdou selbst befand sich zu diesem Zeitpunkt auch schon in Neapel oder in der unmittelbaren Umgebung. Es folgten weitere vier Telefonate – mit Nummern aus dem Ortsnetz Neapel oder Mobiltelefonen -, die ebenfalls von Neapel aus geführt worden waren, das letzte um 12.46 Uhr. Dann tat sich gut vier Stunden lang gar nichts. Um 16.52 Uhr wurde Abdou von einem Mobilfunkteilnehmer angerufen; zu diesem Zeitpunkt befand er sich bereits im Stadtgebiet von Bari. Das nächste und letzte Telefonat des Tages war von Abdous Handy ausgegangen und hatte erst um 21.10 Uhr stattgefunden. Die angewählte Nummer gehörte zu einem Mobiltelefon, beide Teilnehmer befanden sich in Bari. Danach war Sendepause.
Ich überlegte mir, welche Schlüsse man aus der Auswertung dieser Daten ziehen konnte, es waren herzlich wenige. Eines stand jedenfalls fest: Der Fall ließ sich damit nicht lösen, und der Prozess auch nicht entscheiden. Es gab eine Lücke von über vier Stunden, und genau in diesen Stunden war der kleine Francesco verschwunden. Auch anhand der Verbindungsdaten seines Telefons konnte nicht ausgeschlossen werden, dass Abdou, aus Neapel zurückgekehrt, nach Monopoli gefahren, dort zum Strand von Capitolo gegangen war, das Kind mitgenommen und weiß Gott was mit ihm angestellt hatte et cetera, et cetera.
Als ich mich zum Gehen erhob, merkte ich, dass der kleine Mann mit verlorenem Blick an seinem Schreibtisch hinter dem Schalter saß, das Kinn in die Hände gestützt, die Ellbogen auf der Tischplatte.
Ich wünschte ihm einen schönen Tag. Er drehte den Kopf, starrte mich verständnislos an und nickte, während er sich wieder abwandte – ob als Antwort auf meinen Gruß oder auf die Frage eines imaginären Gesprächspartners, mit dem er sich irgendwo in der Ferne unterhielt, war nicht eindeutig zu klären.
Draußen glühte der Asphalt. Es war Mittag, Samstag, der erste Juli, und mir blieb nichts anderes übrig, als mich übers Wochenende in meiner Kanzlei einzuschließen und mein Abschlussplädoyer vorzubereiten.
Ein langes Wochenende lag vor mir.
16
D ie Verhandlung begann pünktlich um neun Uhr dreißig. Das Gericht nahm die Mobiltelefondaten zur Kenntnis, und alle waren sich einig, dass es überflüssig sei, sich die Bedeutung derselben von einem Techniker erklären zu lassen. Die Daten sprachen für sich und waren, mindestens für unsere Zwecke, aussagekräftig genug. Der Telecom-Ingenieur, der als Sachverständiger vor Gericht erschienen war, wurde dankend entlassen.
Gleich darauf erledigte der Vorsitzende zügig die letzten Eröffnungsformalien und erteilte sodann dem Staatsanwalt das Wort. Es war neun Uhr vierzig.
Cervellati stand auf, schob seinen Stuhl nach hinten und stützte sich mit den Händen auf den Tisch. Er zupfte sich die Robe auf der Schulter zurecht, warf einen Blick auf seine Notizen, hob dann endlich den
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