Guido Guerrieri 01 - Reise in die Nacht
Moment hinausgeschoben, bis zur letzten Nacht, bis zum letzten Mal Durchlesen, und danach war ich mit dem Gefühl herumgelaufen, etwas gestohlen zu haben und ungeschoren davongekommen zu sein. Ich hatte es wieder mal geschafft, die ganze Welt hinters Licht zu führen. Man war mir wieder mal nicht auf die Schliche gekommen, aber insgeheim wusste ich, dass ich ein Hochstapler war. Und dass sie mich früher oder später demaskieren würden. Mit Sicherheit.
An diesem Morgen fühlte ich mich gut. Ich wusste, dass ich getan hatte, was ich konnte. Ich hatte Angst, aber es war eine gesunde Angst, nicht die Angst entdeckt und vor aller Welt als Betrüger entlarvt zu werden. Ich hatte Angst, den Prozess zu verlieren, Angst, dass sie Abdou verurteilen würden, aber ich hatte keine Angst, meine Würde zu verlieren. Ich fühlte mich nicht als Hochstapler.
Cotugno sprach etwas über eine Stunde. Er benützte viele Adjektive und brachte es dabei fertig, absolut nichts zu sagen.
Während der Mittagspause ging ich in die Räume der Anwaltskammer im sechsten Stock hinauf, weil ich ein Wörterbuch brauchte. Ich wollte etwas überprüfen, eine Idee, die mir während Cervellatis Plädoyer gekommen war. Die Büroangestellte war gerade dabei, abzuschließen und zu gehen, aber ich konnte sie glücklicherweise davon überzeugen, dass es sich um einen Notfall handelte. Mit der Aufforderung, mich zu beeilen, ließ sie mich in die Bibliothek, wo ich nachschlug, was ich nachzuschlagen hatte, und mir ein paar Notizen machte. Dann verabschiedete ich mich dankend und ging wieder hinunter.
An diesem Punkt wäre ich gerne etwas spazieren gegangen, aber dafür war es draußen einfach zu heiß. Also ging ich in die Bar des Gerichtsgebäudes, holte mir an der Theke einen Milchshake und ein Hörnchen, setzte mich damit an einen Tisch und ließ die restliche Zeit einfach verstreichen.
Als es so weit war, ging ich in den Verhandlungssaal zurück, zog die Jacke aus und zog die Robe über. Fast gleichzeitig läutete die Glocke, und die Tür des Beratungszimmers ging auf. Stehend, mit verschränkten Armen, das Gewicht auf den linken Fuß verlagert, sah ich zu, wie die Richter einer nach dem anderen eintraten und Platz nahmen. Danach setzte auch ich mich hin. Es herrschte Stille.
»Der Verteidiger des Angeklagten hat das Wort«, sagte der Vorsitzende trocken.
Ich wollte gerade aufstehen, als ich merkte, dass sich die Augen einiger Richter auf einen Punkt unmittelbar hinter meinem Rücken richteten. Dann spürte ich, wie mir jemand, knapp oberhalb des Ellbogens, sachte den linken Arm drückte. Ich drehte mich um und sah Margherita. Sie war etwas außer Atem und hatte winzige Schweißtröpfchen auf der Oberlippe. Mit einem kurzen Lächeln, aber ohne etwas zu sagen, setzte sie sich rechts neben mich.
Bevor ich zu sprechen begann, vergingen noch ein paar Sekunden.
»Hohes Gericht, der Staatsanwalt hat es bereits gesagt: Wir befassen uns in diesem Prozess mit dem schlimmsten und widernatürlichsten aller Verbrechen – mit dem Mord an einem Kind. Den ungeheuren Schmerz seiner Eltern kann man nur erahnen.
Wenn wir diesen Schmerz mit unserer Verteidigung bisweilen ungewollt missachtet haben, bitte ich um Entschuldigung.«
Der Vorsitzende betrachtete mich ohne Sympathie. Er dachte, dass dieser Auftakt nur ein rhetorischer Kunstgriff war, mit dem ich die Schöffen für mich gewinnen wollte. Ich war sicher, dass er das dachte, und ich hatte Lust, ihm zu sagen, dass ich das wusste und dass es mir völlig egal war.
»Der eine oder andere von Ihnen denkt vielleicht, dass ich mit dieser Äußerung lediglich um die Sympathie der Richter werben möchte. Wenigstens der Schöffen. Und so abwegig wäre dieser Gedanke gar nicht, denn wir Rechtsanwälte greifen bisweilen zu derlei Strategien. Wie auch immer: Jeder ist frei zu denken, was er möchte. Auch weil Prozesse glücklicherweise nicht aufgrund von Sympathien oder Antipathien dem Verteidiger oder Staatsanwalt gegenüber entschieden werden. Das Einzige, was einen Prozess entscheidet, sind Beweise, so banal das klingen mag. Liegen Beweise vor, wird der Angeklagte verurteilt. Liegen sie nicht vor, ja, sind sie auch nur unzureichend oder widersprüchlich, muss er freigesprochen werden.
Welches aber sind die Kriterien, um zu beurteilen, ob die Beweise in einem Prozess für eine Verurteilung ausreichen oder nicht ausreichen oder dass sie widersprüchlich sind und deshalb einen Freispruch erfordern?
Lassen Sie
Weitere Kostenlose Bücher