Guido Guerrieri 01 - Reise in die Nacht
Terrasse hinaus. Dort setzte ich mich an den Tisch und brach das Siegel der Flasche auf – kennst du dieses wundervolle Knacken, wenn man eine neue Flasche öffnet? Für den Anfang goss ich mir drei Finger hoch Bourbon ein und zwar ganz langsam; ich sah zu, wie die Flüssigkeit ins Glas floss, war entzückt von ihrer Farbe, ihrem Schimmer. Dann hielt ich mir das Glas unter die Nase und atmete mehrmals tief ein.
Ich saß sehr lange vor dem Glas und meine Gedanken drehten sich dabei im Kreis. Du bist ein böses Mädchen. Das warst du schon immer. Man kann seinem Schicksal nicht davonlaufen. Das ist sinnlos. Mehrmals habe ich das Glas zum Trinken hochgehoben, es angeschaut und wieder auf den Tisch gestellt. Da für mich sowieso feststand, dass ich trinken würde, konnte ich die Sache auch mit Ruhe angehen.
Als es dunkel war, saß ich immer noch mit meinem Glas in der Hand da. Irgendwann kam mir in den Sinn, dass ich es noch mehr füllen könnte. Also habe ich es auf den Tisch gestellt, die Flasche aufgeschraubt und noch mehr Bourbon eingegossen, ganz langsam, bis das Glas halb voll war, dann zwei Drittel voll und schließlich randvoll. Selbst dann habe ich nicht aufgehört, sondern immer noch mehr eingegossen.
Irgendwann begann das Glas wie in Zeitlupe überzulaufen. Ich sah zu, wie der Whisky an der Außenwand hinunterlief, sich auf dem Tisch ausbreitete, auf den Boden tropfte.
Als die Flasche leer war, stellte ich sie auf den Tisch zurück, umklammerte mit zwei Fingern das Glas und begann, es langsam zur Seite zu neigen, ohne es hochzunehmen. Auf diese Weise leerte es sich, ganz allmählich. Und je mehr es sich leerte, desto stärker neigte ich es zur Seite. Am Ende habe ich es umgedreht.«
Ich fuhr mir mit den Händen übers Gesicht und atmete endlich aus. Meine Kiefer taten weh.
»An diesem Punkt bin ich aufgestanden, habe Eimer und Lappen geholt und aufgewischt. Danach habe ich die leere Flasche und den Lappen in eine Plastiktüte gepackt und in den Müllcontainer auf der Straße geworfen. Ich hatte große Lust, dich anzurufen, aber das war nicht der richtige Moment – zuerst musste ich diese Sache ganz hinter mich bringen, und zwar allein. Also habe ich dir wenigstens eine SMS geschickt.«
Hier verstummte sie, beinahe brüsk, und dann saßen wir lange schweigend auf der Mauer. Ich hätte viele Fragen gehabt, sie brannten mir auf den Nägeln und betrafen natürlich ihn. Was war nach jenem Abend passiert? Wo war sie heute gewesen? Hatten sie sich noch einmal gesehen, miteinander gesprochen und so weiter.
Ich stellte keine. Es fiel mir nicht leicht, aber ich stellte keine einzige Frage – solange wir nebeneinander auf der Mauer saßen nicht und auch danach nicht, während wir durch die Stadt nach Hause gingen. Nicht einmal, als wir uns vor ihrer Wohnungstür verabschiedeten. Dort war sie es, die als Erste wieder etwas sagte.
»Was denkst du von mir nach allem, was ich dir erzählt habe?«
»Das, was ich auch vorher gedacht habe. Nur dass es jetzt noch ein bisschen komplizierter ist.«
»Möchtest du reinkommen?«
Ich überlegte ein paar Sekunden, bevor ich antwortete.
»Nein, heute Abend nicht. Versteh mich nicht falsch, es ist nur...«
Sie fiel mir ins Wort und redete rasch, als fühle sie sich unwohl dabei.
»Ich verstehe dich nicht falsch. Du hast völlig Recht. Ich hätte dich das gar nicht fragen sollen. Sagtest du, dass dein Prozess am Montag entschieden wird?«
»Wahrscheinlich, aber das hängt noch von Ermittlungen ab, die das Gericht am letzten Verhandlungstag angeordnet hat. Wenn die Unterlagen dafür rechtzeitig ankommen, könnte am Montag das Urteil verkündet werden.«
»Meinst du, du bist morgens mit deinem Plädoyer dran?«
»Nein, das glaube ich nicht. Eher nachmittags.«
»Dann schaffe ich es wahrscheinlich, zu kommen. Ich möchte dabei sein, wenn du sprichst.«
»Mich würde es auch freuen.«
»Tja, dann... gute Nacht. Und danke.«
»Gute Nacht.«
Ich war bereits auf der Treppe.
»Guido...«
»Ja?«
»Ich war danach noch mal bei ihm. Ich habe ihm gesagt, dass er Recht hatte. Mit der Heuchelei – meiner – und allem Übrigen.«
Sie machte eine kurze Pause, bevor sie weitersprach, und ihre Stimme klang bei weitem nicht so selbstsicher wie sonst.
»Meinst du, das war richtig?«
Ich kniff die Augen zusammen und atmete tief ein, während ich spürte, wie sich der Krampf in meinem Magen löste.
Ich sagte »Ja, das war richtig.«
15
D ie Telefondaten trafen ohne weitere
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