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Guido Guerrieri 01 - Reise in die Nacht

Guido Guerrieri 01 - Reise in die Nacht

Titel: Guido Guerrieri 01 - Reise in die Nacht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Gianrico Carofiglio
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ist nicht unwiderstehlich, das kommt euch nur so vor, weil ihr euch schwach fühlt. In Wirklichkeit kommt und geht sie, genau wie eine Woge im Meer. Ihr kennt das doch: Wenn euch beim Baden eine Welle überspült, taucht ihr für ein paar Sekunden unter, aber ihr seid gleich wieder oben, auch wenn es euch wie eine Ewigkeit vorkommt – vorausgesetzt, ihr bleibt ruhig und geratet nicht in Panik. Und genau das müsst ihr auch in diesen kritischen Momenten tun: Ruhe bewahren und nicht in Panik geraten. Denkt daran, dass die Welle vorübergeht und ihr den Kopf gleich wieder über Wasser habt. Wenn ihr den unwiderstehlichen Drang verspürt, zu trinken, tut etwas, um die Sekunden oder Minuten zu überbrücken, die dieser Drang andauert. Macht Kniebeugen, lauft zwei Kilometer querfeldein, esst einen Apfel, ruft einen Freund an. Irgendetwas, das euch hilft, an nichts zu denken.«
    Ich schwieg und fürchtete mich vor dem, was nun kommen würde.
    »Mir ist das mehrere Male passiert, wie allen. Das Aikido hat mir geholfen. Wenn sich die Woge ankündigte, habe ich meinen Kimono angezogen, trainiert und versucht, mich auf das zu konzentrieren, was ich tat. Es hat funktioniert. Hinterher war meine Lust zu trinken verflogen.
    Mit der Zeit wurden die Krisen immer seltener. Die letzte lag gut zwei Jahre zurück.«
    Ich zündete die Zigarette an, die ich seit ein paar Minuten in der Hand hielt. Margherita fuhr im selben Ton fort, die Augen auf einen unbestimmten Punkt vor sich gerichtet.
    »Es gibt da einen Mann... wir sind seit drei Jahren zusammen. Er wohnt nicht in Bari, und vielleicht ist es deshalb so lange gut gegangen. Wir sehen uns nur am Wochenende – entweder er kommt zu mir, oder ich fahre zu ihm. Letztes Wochenende ist er gekommen. Ich hatte ihm schon einmal von dir erzählt, einfach so, ganz normal. Zuerst hatte er keine Probleme damit, und wenn, hat er es nicht gezeigt.«
    Sie wandte sich leicht nach mir um, nahm mir die Zigarette aus der Hand, zog ein paar Mal daran und gab sie mir wieder zurück.
    »Aber letzten Samstag, ich weiß nicht warum, kam er plötzlich auf das Thema zurück. Und diesmal hat er mir eine regelrechte Eifersuchtsszene hingelegt. Dazu muss gesagt werden, dass er eigentlich kein eifersüchtiger Mensch ist, absolut nicht. Im Gegenteil. Wahrscheinlich hat es mich deshalb so getroffen. Ich hab schlecht reagiert, sehr schlecht. Wir sind davor miteinander ins Bett gegangen, ich meine, wir haben miteinander geschlafen...«
    Ich fühlte einen Stich in der Brust und gleich darauf dichten Nebel im Gehirn, ich weiß nicht, wie lange. Bis es mir irgendwann wieder gelang, ihr zuzuhören.
    »... und dann meinte ich, dass ich so etwas nie von ihm erwartet hätte. Dass ich schwer enttäuscht sei und so weiter. Er warf mir vor, zu heucheln. Ich würde nicht nur ihn, sondern vor allem mich selbst belügen, wenn ich behaupte, du wärst nur ein Freund, und das sei wirklich scheinheilig. Gerade meine heftige Reaktion beweise, dass er Recht habe, und das wisse ich auch genau. Wir haben die halbe Nacht miteinander gestritten. Am nächsten Morgen hat er mir mitgeteilt, dass er mich verlässt. Ich solle meine Gedanken ordnen und versuchen, ehrlich zu sein, ihm und mir selbst gegenüber. Danach konnten wir uns vielleicht hören und noch mal über alles reden. Mit diesen Worten ging er, und ich saß mit dröhnendem Kopf auf dem Bett und sah ihm nach. Unfähig, auch nur einen klaren Gedanken zu fassen. Die nächsten Stunden waren entsetzlich, und natürlich bekam ich Lust, zu trinken, eine wahnsinnige Lust, wie ich sie, seit ich trocken bin, noch nie gehabt habe. Ich zog meinen Kimono an und versuchte es mit Aikido, aber im Grunde hatte ich nicht die geringste Lust dazu. Ich hatte nur Lust, zu trinken und mich wohl zu fühlen, das Dröhnen in meinem Kopf wegzukriegen und alles zu vergessen, Verantwortung, Pflicht und Mühe, einfach alles, Scheiße noch mal.
    Da bin ich losgegangen, hab mich in mein Auto gesetzt und bin nach Poggiofranco gefahren. Dort gibt es eine große Bar, die auch Wein und Spirituosen verkauft, ich vergesse immer ihren Namen – vielleicht kennst du sie ja?«
    Ich kannte die Bar tatsächlich und nickte. Mein Mund war ausgetrocknet, und die Zunge klebte mir am Gaumen.
    »Ich bin reingegangen und hab eine Flasche Jim Beam verlangt – früher mein Lieblingswhisky. An diesem Punkt kam Ruhe über mich. Tödliche Ruhe. Ich fuhr nach Hause zurück, holte mir ein großes Glas aus dem Schrank und ging auf die

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