Guido Guerrieri 03 - Das Gesetz der Ehre
machen, musste sich dann aber überlegt haben, dass das überhaupt nicht lustig und noch nicht einmal originell gewesen wäre. Deshalb machte er nur eine müde Handbewegung, bevor er weitersprach.
»... also, wenn ich nicht arbeite, versuche ich, ein wenig Gymnastik zu machen, Liegestützen, Kniebeugen, Stretching, was mir eben so einfällt; und dann lese ich.«
Da haben wir’s, dachte ich. Das hat gerade noch gefehlt. Ein Faschist, der liest. Haben Sie Julius Evola hier im Knast? Oder vielleicht eine Anthologie mit Textauszügen aus Mein Kampf ?
»Was lesen Sie denn so?«
»Was mir in die Finger kommt. Im Augenblick lese ich die Biographie von Nelson Mandela. Der lange Weg zur Freiheit . Klingt gut für jemanden in meiner Lage. Lesen Sie gerne, Herr Guerrieri?«
Ich dachte, dass ich ihm eigentlich das Du hätte anbieten sollen. Dass es doch absurd sei, sich weiter zu siezen, bei allen – wie sollte ich sagen – Gemeinsamkeiten, die es zwischen uns gab und gegeben hatte. Nur, dass er von diesen Gemeinsamkeiten eben keine Ahnung hatte. Und wohl auch nie haben würde.
»Ja, sehr gern.«
»Und was lesen Sie gerade?«
Zufälle gibt es nicht, las ich gerade. Und just in dem Moment, in dem ich ihm als Antwort auf seine Frage diesen Titel nannte, hatte ich das Gefühl, alles bekomme plötzlich einen Sinn, klar und unmissverständlich. Ja, als hätte es diesen klaren und unmissverständlichen Sinn schon immer gegeben, genau wie bei Poes gestohlenem Brief, ich war nur nicht in der Lage gewesen, ihn zu begreifen. Weil er allzu offensichtlich war.
Paolicellis Stimme zerstreute meine Gedanken, bevor es mir gelungen wäre, diesen Sinn in Worte zu bannen und festzuhalten.
»Ist das ein Roman?«
»Nein, das ist ein Essay – von einem Psychoanalytiker, einem Jungianer. Er schreibt darin über den Zufall, über das glückliche oder unglückliche Zusammentreffen von Umständen. Und über die Geschichten, die wir uns erzählen, um solche Phänomene zu erklären. Es ist ein gutes Buch, ein Buch über die Suche nach dem Sinn und über Geschichten.«
Und nach einer kurzen Pause fügte ich noch hinzu: »Ich mag Geschichten sehr.«
Warum sagte ich ihm diese Dinge? Warum sagte ich ihm, dass ich Geschichten mochte? Warum erzählte ich ihm von mir?
Wir fuhren fort zu plaudern. Zuerst noch ein wenig über Bücher, dann über Sport. Dass ich boxte, hätte er nie erraten, meinte er; ich sei gar nicht der Typ, und ein gebrochenes Nasenbein hätte ich ja auch nicht. Er selbst spiele Tennis, ziemlich gut sogar. Nur, dass er im Gefängnis keine Gelegenheit dazu habe und deshalb vermute, seine Rückhand sei schon mal besser gewesen. Er war jetzt entspannter, und der Spruch kam ihm ziemlich locker über die Lippen. An diesem Punkt fiel mir ein, dass er mir bei unserem ersten Treffen gesagt hatte, er würde wieder rauchen, seit er im Gefängnis war; ich hatte ihn aber noch nie eine Zigarette anzünden sehen.
Wie das komme, fragte ich ihn. Na ja, er wisse doch, dass ich aufgehört hätte zu rauchen – meinte er -, und da störe es mich sicher, wenn andere rauchten, das wolle er nicht. Ich sagte, danke, aber es störe mich schon lange nicht mehr, wenn andere rauchten. So gut wie nie, dachte ich, ohne es zu sagen. Er nickte und meinte, dass er trotzdem auch weiterhin nicht rauchen wolle, wenn wir uns träfen. So sei es ihm lieber.
Vom Rauchen kamen wir auf die Musik.
»Was mir hier mit am meisten fehlt, ist die Musik.«
»Meinen Sie Musik hören oder selber ein Instrument spielen?«
Paolicelli lächelte und zuckte leicht mit der Schulter.
»Nein, nein. Hören. Ich hätte gern ein Instrument gelernt, aber ich habe es nie versucht. Wie ich vieles andere nie versucht habe, aber egal, lassen wir das. Nein, ich höre gern Musik. Vor allem Jazz.«
»Welche Art von Jazz?«
»Lieben Sie auch Musik?«
»Na ja, schon. Ich höre sie mir gerne an, auch wenn ich mir nicht immer sicher bin, sie zu verstehen.«
»Ich mag jede Art von Jazz. Was mir hier im Gefängnis fehlt, sind aber die klassischen Stücke, die, die ich schon als Jugendlicher gehört habe.«
Du meinst, als du noch ein faschistischer Schläger warst und Hakenkreuze an die Wände geschmiert hast? Aber du weißt doch, dass der Jazz die Musik der Schwarzen war, oder? Wie passt das mit der auserwählten Rasse und dem ganzen Scheiß zusammen?
»Mein Vater war ein großer Jazzliebhaber und hatte eine riesige Sammlung von alten Schallplatten. Sogar ganz seltene Aufnahmen aus den
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