Guido Guerrieri 03 - Das Gesetz der Ehre
fünfziger Jahren. Jetzt gehören sie mir, und ich hab sogar noch einen echten Plattenspieler, um sie abzuspielen.«
Diese Schallplattensammlung muss sich in einem der Zimmer befinden, in denen ich nicht war, dachte ich und hatte dabei das schmerzliche Gefühl, erneut den Geruch dieser Wohnung wahrzunehmen.
»Haben Sie ein Lieblingsstück?«
Er lächelte erneut und nickte, während sein Blick in die Ferne schweifte.
»Ja, das habe ich. On the sunny side of the street. Eine der ersten Sachen, die ich mir vorgenommen habe, wenn ich hier rauskomme, wird sein, mir eine uralte Rundfunkaufnahme dieses Stücks anzuhören. Ich glaube, sie stammt aus dem Jahr 1952. Satchmo singt und spielt in den Studios der RAI in Florenz. Wenn ich mir vorstelle, dass das Rauschen darauf so viele Jahre alt ist, kriege ich eine Gänsehaut.«
Er begann, leise und perfekt moduliert On the sunny side of the street vor sich hin zu pfeifen, und vergaß einen Augenblick lang mich und alles andere um sich herum, während der schäbige, stille Raum sich mit Klängen füllte. Und während in meinem Kopf die Fragen wie Billardkugeln aufeinanderprallten.
Wer zum Teufel bist du? Warst du wirklich dabei, als sie diesen Studenten erstochen haben? Und bist du heute noch Faschist? Wie ist es möglich, dass du Faschist warst und Jazz mochtest? Wie ist es möglich, dass du Bücher magst? Wer bist du?
Die Noten verflüchtigten sich, ohne dass ich es merkte, genau wie meine Gedanken und meine Fragen ohne Antworten. Einige meiner Gewissheiten hatten sich schon längst verflüchtigt.
Paolicelli forderte mich auf zu gehen, er habe meine Freundlichkeit schon genug strapaziert und sei mir sehr dankbar dafür, dass ich mit ihm geplaudert hätte. Das sei ihm ein großes Vergnügen gewesen.
Auch mir sei es ein Vergnügen gewesen, gab ich zur Antwort.
Und das war nicht gelogen.
»Dann sehen wir uns morgen, im Gerichtssaal.«
»Bis morgen. Und danke. Für alles.«
Wenn du wüsstest.
32
V om Gefängnis ging ich direkt ins Büro, wo ich mit Natsu verabredet war. Ich sagte ihr mehr oder weniger dasselbe, was ich bereits ihrem Mann gesagt hatte – wie die Verhandlung ablaufen würde, wie sie sich verhalten sollte und so weiter.
Vor dem Gang ins Gefängnis, vor meiner Unterhaltung mit Paolicelli, war ich eigentlich entschlossen gewesen, Natsu zu fragen, ob wir uns heute Abend sehen könnten. Aber nach diesem Gespräch war ich dazu nicht mehr imstande.
Meine Gefühle waren eine Mischung aus Zärtlichkeit, Scham und Wehmut. Ich dachte, dass es schön gewesen wäre, wenn sich dieser tief sitzende, zähe Klumpen Schmerz, den ich wegen Margherita empfand, einfach aufgelöst hätte, wie durch Zauberhand; und dass es schön gewesen wäre, mich unbekümmert in Natsu verlieben zu können. Ich dachte, dass es schön gewesen wäre, sich die Zukunft ausmalen zu können, die Tage und die Nächte, die wir zusammen verbringen würden. Und vieles mehr. Wahrscheinlich gar nicht so sehr wegen ihr, sondern wegen der Liebe an sich, der Idee vom Spiel und vom Leben, das sich nicht unterkriegen lässt.
Aber es ging eben nicht.
Als wir mit dem geschäftlichen Teil fertig waren, sagte ich deshalb nur, dass sie schöner sei denn je, umrundete den Schreibtisch, gab ihr einen Kuss auf die Wange und meinte, ich würde bis in die Nacht hinein arbeiten.
Sie sah mich ziemlich lange an, so, als hätte sie mich nicht richtig verstanden. Zu Recht. Am Ende gab auch sie mir einen Kuss auf die Wange und ging.
Es folgte die übliche Routine, nur ein bisschen melancholischer. Büro abschließen, nach Hause gehen, auf den Sack eindreschen, Dusche, belegtes Brötchen, Bier.
Es war nicht der richtige Abend, um zu Hause zu bleiben, und so beschloss ich, ins Kino zu gehen. Im Esedra lief The long goodbye von Altman in der Originalfassung mit Untertiteln. Ich ging zu Fuß, durchquerte eilends die Straßen, die so verlassen und vom Mistral leergefegt waren, dass man schon fast Angst bekam. Zwanzig Minuten später erreichte ich das alte Kino.
Der Mann, der die Karten verkaufte, war alles andere als erfreut, mich zu sehen, und er tat nichts, um es zu verbergen. Er zögerte sogar ein paar Sekunden, bevor er den Geldschein annahm, den ich ihm hingelegt hatte, und ich dachte schon, er würde mich bitten, wieder zu gehen, weil ich der einzige Zuschauer sei und somit das Einzige, was einer vorzeitigen Schließung des Kinos im Wege stand. Dann nahm er den Schein aber doch, riss eine Eintrittskarte vom
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