Guido Guerrieri 03 - Das Gesetz der Ehre
das Übernachtungsregister des Hotels einzusehen. Erfinde irgendwas.«
»Danke, Carmelo.«
Er antwortete mit einem Kopfnicken, das so viel hieß wie: Bitte, aber ich weiß nicht, ob ich dir damit wirklich einen guten Dienst erwiesen habe. Dann legte er ein paar Blätter auf den Tisch, die er bis zu diesem Augenblick in der Hand gehabt hatte.
»Hier, lies dir das durch, präge es dir ein und wirf es dann weg. Technisch gesehen, wäre das ein Corpus delicti.«
39
A m Nachmittag vor der Sitzung, in der Macrì vernommen werden sollte, rührte ich die Akte nicht an. Ich tat alles Mögliche andere: verfasste eine Berufungsschrift, obwohl die Frist dafür eigentlich erst eine Woche später abgelaufen wäre, entwarf Mahnungen für zahlungsunwillige Mandanten, räumte Akten weg...
Maria Teresa merkte wohl, dass etwas nicht stimmte, aber sie stellte glücklicherweise keine Fragen. Als sie kurz nach Büroschluss den Kopf hereinstreckte, um sich zu verabschieden, bat ich sie, mir wie immer eine Pizza und ein Bier zu bestellen.
Erst kurz nach neun begann ich wirklich zu arbeiten. Auch das war ein Klassiker bei mir: erst dann mit der Arbeit beginnen, wenn die Zeit fast abgelaufen ist. Ich bin ein Meister der letzten Minute. Aufgaben, die besonders knifflig oder besonders wichtig sind oder am besten alles beides, nehme ich immer erst in Angriff, wenn mir das Wasser bis zum Halse steht oder noch ein Stück drüber.
Ich las mir noch einmal die gesamte – eher magere – Akte durch und dann noch einmal meine gesamten Notizen. Die auch nicht sonderlich umfangreich waren.
Als Nächstes dachte ich mir eine Batterie von Fragen aus und schrieb sie nieder; es wurden an die zwanzig, und sie waren allesamt nach einer vermeintlichen Strategie formuliert, wie von einschlägigen Lehrwerken empfohlen. Danach kam ich mir vor wie ein perfekter Idiot. Und genau so würde ich mich fühlen, wenn ich Macrì anhand dieses Fragenkatalogs vernehmen würde.
Ich sagte mir, dass man einen Boxkampf doch auch nicht vorbereitet, indem man sämtliche Haken, Ausweichbewegungen und sonstige Aktionen auflistet, die man im Ring vom ersten bis zum letzten Gongschlag vorzunehmen gedenkt. Das funktioniert nicht. Bei Boxkämpfen so wenig wie bei Prozessen. Und im wirklichen Leben erst recht nicht.
Während ich meine alberne Fragenliste zusammenknüllte und in den Papierkorb warf, kamen mir Bilder des Matchs zwischen Mohammed Ali und George Foreman in den Sinn, als sie 1976 in Kinshasa um den Weltmeistertitel im Schwergewicht gekämpft hatten.
Die größte Begegnung in der Geschichte des Boxsports.
In den Tagen vor dem Kampf hatte Foreman gesagt, er würde Ali in zwei oder drei Runden auf die Matte legen. Er war dazu in der Lage, und er begann das Match, indem er wie ein Besessener auf Ali eindrosch. So würde das nicht lange dauern, dachten alle. So konnte das nicht lange dauern. Ali versuchte auszuweichen, deckte sich, wich an die Seile zurück, steckte einen Körpertreffer nach dem andern ein.
Ohne sich zu wehren.
Aber er redete. Keiner hörte, was er sagte, aber alle konnten sehen, dass Ali inmitten der von Foreman ausgelösten Lawine der Gewalt unablässig die Lippen bewegte. Und das Gesicht, das er dabei machte, war nicht das von einem, der massenhaft Prügel einsteckt und dabei ist, den Kampf zu verlieren.
Ali ging wider jede Voraussicht nicht in den ersten Runden zu Boden, und auch nicht in den darauf folgenden. Foreman fuhr fort, wütend auf ihn einzudreschen, aber seine Fäuste richteten immer weniger aus. Ali fuhr fort, auszuweichen, sich zu decken, einzustecken. Und zu reden.
Mitten in der achten Runde, als Foreman bereits durch den Mund atmete und nach Hunderten von unnützen Schlägen nur noch mühsam die Arme hochbekam, löste sich Ali plötzlich aus den Seilen und platzierte beidhändig eine unglaubliche Hakenkombination. Foreman ging zu Boden, und als er sich wieder aufrappelte, war das Match zu Ende.
Ich schloss die Akte und steckte sie in meine Tasche. Danach suchte ich im Schrank nach einem Album mit Songs von Bob Dylan, das ich meines Wissens im Büro gelassen hatte. Es war da. Und einer der Songs war Hurricane .
Nachdem ich die CD eingelegt hatte, machte ich das Licht aus, ging an meinen Platz zurück, kreuzte die Beine auf der Schreibtischplatte und lehnte mich im Bürostuhl zurück.
Ich hörte mir den Song dreimal an, im Halbdunkel, und dabei ging mir vieles durch den Kopf.
Beispielsweise, dass ich manchmal richtig froh war,
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