Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Guido Guerrieri 03 - Das Gesetz der Ehre

Guido Guerrieri 03 - Das Gesetz der Ehre

Titel: Guido Guerrieri 03 - Das Gesetz der Ehre Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Gianrico Carofiglio
Vom Netzwerk:
Fragen.«
    Mirenghi fragte den Staatsanwalt, ob er noch Fragen an den Zeugen habe. Porcelli verneinte.
    »Gut, dann können Sie gehen, Avvocato Macrì.«
    Macrì stand auf, grüßte und verließ den Raum, ohne mich anzusehen. Ohne irgendjemanden anzusehen.
    Der Saal war wie elektrisiert. Eine Energie, die bisweilen spürbar ist, wenn ein Prozess von den Trassen der vorgefertigten Lösungen abkommt und auf neue, unbekannte Ziele zusteuert. Wenn es vorkommt, dann spüren es alle.
    Russo spürte es, und vielleicht spürte es sogar der Staatsanwalt.
    »Gibt es weitere Anträge, bevor wir die Beweisaufnahme für abgeschlossen erklären?«
    Ich erhob mich langsam von meinem Stuhl.
    »Ja, Herr Vorsitzender. Nach Anhörung des Zeugen Macrì muss ich die Aufnahme einiger zusätzlicher Beweismittel beantragen. Aus Gründen, die nicht erst erläutert werden müssen, bitte ich darum, erstens das polizeiliche Führungszeugnis von Romanazzi, Luca aufzunehmen, zweitens eine Kopie der Passagierlisten des Fährschiffs, mit dem Herr Paolicelli aus Montenegro zurückkehrte, und drittens eine Kopie der Übernachtungslisten des Hotels Lighthouse aus den Jahren 2002 und 2003.«
    Der Vorsitzende wechselte ein paar Worte mit seinen beiden Kollegen. Er redete leise, aber ich hörte, dass er sie fragte, ob sie sich ins Beratungszimmer zurückziehen müssten, um einen Beschluss zu fassen. Ich hörte nicht, was die beiden sagten, aber sie zogen sich nicht ins Beratungszimmer zurück, und Mirenghi diktierte einen raschen Beschluss, in dem er meine Anträge zuließ und die eigentliche Verhandlung nebst Aufnahme besagter Beweismittel auf die folgende Woche vertagte.

44
    D ie Woche bis zur nächsten Sitzung verging für mich wie im Flug.
    Am Tag vor dem festgesetzten Termin – ich war gerade dabei, mir noch einmal die Unterlagen durchzusehen und mir ein Schema für mein Plädoyer auszudenken – drängte sich mir plötzlich ein seltsamer, ein geradezu unbegreiflicher Gedanke auf. Ich stellte mir meine Zeit, also die Zeit, die mir auf Erden zur Verfügung stand, wie eine Art Sprungfeder vor, die bis zum Äußersten zusammengepresst war und jeden Augenblick hochschnellen würde. Um mich wer weiß wohin zu katapultieren.
    Ich fragte mich, was dieses rätselhafte Bild, das mir mit einem Mal so lebhaft vor Augen stand, zu bedeuten hätte, und ich fand keine Antwort auf diese Frage.
    Am Abend gegen acht kam Natsu in der Kanzlei vorbei. Sie wollte nur mal eben reinschauen, hallo sagen und sich erkundigen, wie die Vorbereitungen für den nächsten Tag liefen, sagte sie.
    »Du siehst müde aus. Richtig erschöpft.«
    »Meinst du damit, nicht ganz so blendend wie sonst?«
    Ein ziemlich mäßiger Versuch, witzig zu erscheinen. Natsu antwortete mir ernst.
    »So gefällst du mir sogar noch besser.« Sie war drauf und dran, noch etwas zu sagen, unterließ es dann aber.
    »Musst du noch lange arbeiten?«
    »Ich glaube schon. Das wird eine echte Gratwanderung. An Argumenten fehlt es uns nicht, aber das Problem ist, die richtigen auszuwählen. Die, von denen sich die Richter beeindrucken lassen. Und welche das sind, ist bei einem Prozess wie diesem sehr schwer abzuschätzen.«
    »Wie groß ist die Wahrscheinlichkeit, dass es zu einem Freispruch kommt?«
    Das hatte mir gerade noch gefehlt, dass sie mich das fragte. In ein paar Stunden begann diese verdammte Verhandlung, in meinem Kopf schwirrten unerklärliche, um nicht zu sagen unheimliche Bilder herum, und sie fragte mich, wie groß die Wahrscheinlichkeit war, dass es zu einem Freispruch kam.
    Es gibt Prozesse, bei denen weißt du schon im Voraus, dass dein Mandant verurteilt wird und dass du nur darauf hinarbeiten kannst, den Schaden zu begrenzen. In anderen weißt du im Voraus, dass er freigesprochen wird, unabhängig davon, was du als Anwalt leistest, ja unabhängig davon, ob überhaupt ein Anwalt zugegen ist. Bei solchen Prozessen arbeitest du ausschließlich darauf hin, dein Honorar zu rechtfertigen, indem du deinem Mandanten vorgaukelst, er habe seinen Freispruch ausschließlich deinem überragenden Können zu verdanken.
    In allen anderen Fällen ist es ratsam, keine Prognosen zu riskieren. Äußerst ratsam.
    »Schwer zu sagen. Als Favoriten gehen wir jedenfalls nicht ins Rennen.«
    »Sechzig zu vierzig? Siebzig zu dreißig?«
    Sagen wir, neunzig zu zehn. Optimistisch geschätzt.
    »Ja, ich würde sagen siebzig zu dreißig ist realistisch.«
    Vielleicht glaubte sie mir, vielleicht auch nicht. Ihrem Gesicht

Weitere Kostenlose Bücher