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Guido Guerrieri 04 - In ihrer dunkelsten Stunde

Guido Guerrieri 04 - In ihrer dunkelsten Stunde

Titel: Guido Guerrieri 04 - In ihrer dunkelsten Stunde Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Gianrico Carofiglio
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hatte ich mir schon Hemd und Hose ausgezogen (ich hatte also nur noch die Unterhose an), hatte mir die Hände bandagiert und Boxhandschuhe angezogen und fing an, auf ihn einzuprügeln.
    Ich ließ die erste Runde sanft angehen, zum Aufwärmen. Leichte Kombinationen aus drei, vier Schlägen mit beiden Händen, ohne wirklich zuzuschlagen. Jab, Gerade, linker Haken. Rechter Seithaken, linker Seithaken, Auswärtshaken. Jab, rechte Gerade. So ging das die ersten drei Minuten, zum Aufwärmen. In der Pause wechselte ich ein paar Worte mit Mister Sandsack, aber in Wirklichkeit hatte keiner von uns an diesem Abend besondere Lust zu reden. Als ich in die zweite Runde ging, steckte ich mehr Energie hinein, und die zufällige Wiedergabe spielte das Intermezzo aus Cavalleria rusticana , weshalb ich mir vorkam wie Robert De Niro in Wie ein wilder Stier .
    Wenn ich boxe und die Musik und die Konzentration stimmen, tauchen manchmal Erinnerungen auf, mit denen ich nicht gerechnet habe, öffnen sich Türen, hinter denen Szenen, Klänge, Geräusche, Stimmen, manchmal auch Gerüche sind, die ich längst vergessen hatte.
    An diesem Abend, als ich mich an Mister Sandsacks Körper abarbeitete, der mich geduldig gewähren ließ, fiel mir plötzlich, wie in einem Kopfkino, mein erster Wettkampf als Amateurboxer ein, Weltergewicht, Jugendklasse.
    Ich war gerade erst sechzehn, groß, dünn und halbtot vor Angst. Mein Gegner war kleiner und viel kräftiger als ich, mit einem pockennarbigen Gesicht und der Miene eines Mörders. Oder zumindest kam es mir damals so vor. Ich hatte beschlossen zu boxen, um die Angst, die ich gerade vor Typen wie diesem hatte, zu überwinden. In den schier endlosen Minuten, die dem Kampf vorausgingen, dachte ich unter anderem, dass diese Therapie nicht gewirkt hatte. Meine Beine zitterten, ich keuchte und hatte den Eindruck, meine Arme seien gelähmt. Ich dachte, ich würde sie nicht erheben können, um mich zu schützen, und schon gar nicht, um zuzuschlagen. Die Panik nahm derartig zu, dass ich überlegte, ob ich plötzliche Übelkeit vorschützen sollte – etwa, indem ich mich auf den Boden warf und einen Ohnmachtsanfall simulierte –, um bloß den Wettkampf zu verhindern.
    Doch als dann der Gong erklang, stand ich auf und ging in den Ring. Und da geschah etwas Merkwürdiges.
    Seine Schläge taten nicht weh. Sie landeten auf meinem Helm und vor allem auf meinem Körper, da er kleiner war als ich und auf alle möglichen Arten versuchte, an mich heranzukommen. Bei jedem Schlag stieß er die Luft mit einem gutturalen Grunzen aus, als wollte er mich endgültig erledigen. Seine Schläge jedoch waren langsam, kraftlos und harmlos, und sie taten nicht weh. Ich wich ihnen aus, versuchte meine Geraden zu setzen und traf ihn ständig mit links.
    In der dritten Runde wurde er dann wütend. Vielleicht hatte ihm sein Trainer gesagt, dass er dabei war zu verlieren, vielleicht hatte er es auch selbst gemerkt. Auf jeden Fall stürzte er sich beim Glockenschlag auf mich wie eine Furie und wirbelte dabei wie wild mit den Armen. Meine rechte Gerade ging los und traf ihn am Kopf, ohne dass ich es wirklich merkte und ohne dass ich die Bewegung genau hätte rekonstruieren können. Woran ich mich erinnere – oder zumindest glaube , mich erinnern zu können –, ist eine Art Momentaufnahme, der Sekundenbruchteil nach dem Schlag und bevor er zu Boden ging, ebenso unkoordiniert, wie er auf mich losgegangen war.
    Beim Amateurboxen kommt es selten vor, dass jemand zu Boden geht, und ein K. o. ist noch seltener. Es ist ein echtes Ereignis. Als ich meinen Gegner auf dem Boden liegen sah, überkam mich eine Hitzewelle, ein Schauer aus Wärme und wilder Freude, der von der Gürtellinie aufstieg bis hoch in den Nacken.
    Der Schiedsrichter bedeutete mir, in meine Ecke zu gehen, dann begann das Auszählen. Der andere stand beinahe sofort auf und hob die Handschuhe, um zu zeigen, dass er bereit war weiterzumachen. Und tatsächlich ging der Kampf wieder los, aber er war bereits entschieden. Ich hatte einen Vorsprung, der nur dadurch einzuholen gewesen wäre, dass mich der Pockennarbige zu Boden warf und ich nicht wieder aufstand. Dazu war er nicht in der Lage. Ich tänzelte wieder um ihn herum, wich ohne Probleme seinen Attacken aus, die immer ungelenker und schwächer wurden, und traf ihn weiter mit der Linken, bis der Gong das Ende der Runde und des Wettkampfs ankündigte.
    An jenem Abend konnte ich nicht einschlafen. Ich war noch ein Kind und

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