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Guido Guerrieri 04 - In ihrer dunkelsten Stunde

Guido Guerrieri 04 - In ihrer dunkelsten Stunde

Titel: Guido Guerrieri 04 - In ihrer dunkelsten Stunde Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Gianrico Carofiglio
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wir ihm helfen, sein Leben neu anzufangen. Aber in der Zwischenzeit wollen wir ihn noch ein wenig dort lassen, nachdem es ihm so gut geht. Es ist, als wäre er auf Kur«, schloss der Vater mit der erleichterten Miene eines Menschen, der soeben eine schwierige Aufgabe bewältigt hat.
    Ich wollte gerade sagen, dass Nicola immerhin volljährig war und dass ich folglich aus ethischen Gründen verpflichtet war, seine Meinung zu dieser unorthodoxen Lösung einzuholen.
    Doch dann überlegte ich, kam zu einem Entschluss, von dem die Anwaltskammer besser nichts erfuhr, und sagte nichts. Ich beschränkte mich darauf, die Hände mit den Handflächen nach oben auszubreiten, in einer Geste der Kapitulation.
    Monate später kam der Moment der Vorverhandlung.
    An jenem Morgen gab es vor meiner Verhandlung noch eine andere mit Dutzenden von Angeklagten, in der es um eine Reihe von Betrügereien zu Lasten der staatlichen Rentenversorgung ging. Der Saal – der größte für Vorverhandlungen – war voll mit Angeklagten und ihren Anwälten und war so ordentlich und diszipliniert wie der Souk von Marrakesch. Alles wies darauf hin, dass es länger dauern würde. Um die Zeit angenehmer vergehen zu lassen, holte ich meinen iPod aus der Tasche und drückte auf die Taste »beliebige Abfolge«.
    Wie durch Zauberei verwandelte sich das Szenarium plötzlich in ein Spektakel von sinnloser, mythischer, irrwitziger Schönheit.
    Indem sie, ohne es zu wissen, den Rhythmen der Rockmusik folgten, tanzten die Anwälte, Angeklagten, der Richter, der Gerichtsdiener und die Verwahrungsbeamten alle im selben Takt auf meiner persönlichen Bühne.
    Anwälte standen auf und sagten Dinge, die ich nicht hören konnte, Angeklagte diskutierten aufgeregt miteinander, der Richter diktierte das Protokoll: eine Choreografie, die durch die Musik Bedeutung und Notwendigkeit erlangte.
    Der aufregendste Moment dieses Privatmusicals war, als einer meiner Kollegen, dessen besonderes Merkmal eine tiefe Verachtung für den Konjunktiv war, aufstand und sich dem Richter wild gestikulierend näherte, wie mir schien, in perfekter Übereinstimmung mit der Stimme Freddy Mercurys, der gerade Don’t stop me now sang.
    Manchmal ist es gar nicht schlecht, Anwalt zu sein, dachte ich, während ich die Beine unter dem Vordersitz ausstreckte, um das Schauspiel noch besser zu genießen.
    Als diese Vorverhandlung wegen des Rentenbetrugs zu Ende war, der Saal geräumt und die Kopfhörer wieder in der Tasche verstaut, kamen wir an die Reihe. Jetzt waren nur noch der Richter übrig, der Gerichtsschreiber, ich, Consuelo – die nach ein paar Erledigungen im Gericht zu uns gestoßen war –, der Staatsanwalt, mein Mandant und die beiden Wachleute, die ihn begleitet hatten und ihn sorgfältig beaufsichtigten, für den Fall, dass es ihm einfallen sollte, im Gerichtssaal den Gashahn aufzudrehen und ein Attentat zu verüben.
    Nach den Eröffnungsformalitäten fragte der Richter, ob es Anträge gebe. Ich erhob mich und sagte, Herr Costantino wünsche, vom Gericht gehört zu werden. Dieser Antrag war dadurch gerechtfertigt, dass der Angeklagte nur ein einziges Mal angehört worden war, und zwar zwei Tage nach der Festnahme, als er – um es euphemistisch auszudrücken – noch nicht ganz bei sich war.
    Der Richter diktierte eine kurze Anweisung für das Protokoll, wies die Wachleute an, den Angeklagten vor ihn zu führen, und forderte dann den Staatsanwalt auf anzufangen.
    »Haben Sie die Anklageschrift gelesen?«, fragte der Staatsanwalt. Nicola sah ihn verwirrt an, da ihm diese Frage offensichtlich allzu dumm erschien. Dann bemerkte er mein Nicken und verstand, dass er antworten musste.
    »Ja, natürlich.«
    »Haben Sie das getan, was darin steht?«
    »Ich habe das Gas aufgedreht, weil ich mein Leben beenden wollte. Aber ich wollte doch kein Attentat verüben. Auch wenn mir später, als ich nicht mehr so durcheinander war, klar wurde, dass ich damit einen ganz schönen Schaden hätte anrichten können.«
    »Wollen Sie damit sagen, dass Sie sich auf eine Weise verhalten haben, die das Wohl der Öffentlichkeit gefährdet?«
    Ich wollte schon Einspruch geltend machen, aber dann überlegte ich es mir anders. Widerstand brachte gar nichts, da auch die Frage vollkommen sinnlos war. Mein Mandant, der, wie ich bereits sagte, nicht besonders scharfsinnig war, antwortete trotzdem auf alles sehr stimmig, so dass der Staatsanwalt nach ein paar Fragen fertig war.
    »Wollen Sie weitermachen, Guerrieri?«,

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