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Guido Guerrieri 04 - In ihrer dunkelsten Stunde

Guido Guerrieri 04 - In ihrer dunkelsten Stunde

Titel: Guido Guerrieri 04 - In ihrer dunkelsten Stunde Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Gianrico Carofiglio
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so.«
    Jemand, der sagt, dass er Buchhändler werden will, ist mir auf Anhieb sympathisch. Als kleiner Junge wollte ich immer Buchhändler werden. Ich hatte eine sehr romantische und vollkommen unrealistische Vorstellung von diesem Beruf, der in meiner Fantasie darin bestand, die ganze Zeit umsonst alles zu lesen, worauf ich Lust hatte. Nur ganz selten wäre ich durch einen Kunden unterbrochen worden, der sich allerdings sehr schnell wieder verzogen hätte, um mich nicht allzu lang von meiner Lektüre abzuhalten. Ich dachte, dass ich als Buchhändler oder als Bibliothekar sehr viel freie Zeit haben würde, um meine Romane zu schreiben, an langen Frühlingstagen, wenn die schrägen Sonnenstrahlen durch die Fensterscheiben fielen – ungefähr wie in City Lights Books – und sich sanft über Tische, Regale und natürlich Bücher ergossen.
    »Wie schön. Auch ich wollte immer Buchhändler werden, als ich klein war. Um auf Ihre Frage zurückzukommen: Sie haben recht, normalerweise werden Ermittlungen im Auftrag der Verteidigung von Privatdetektiven durchgeführt, aber in diesem Fall wollte die Familie von Manuela lieber einen Anwalt, weil er kompetenter in Sachen Prozessrecht ist.«
    Ich sagte das, als handle es sich um einen ganz normalen Auftrag für mich. Sie nickte, und ich schloss aus ihrem Gesichtsausdruck, dass sie mit meiner Antwort zufrieden war. Genauer gesagt: Sie war zufrieden, dass sie mir die Frage gestellt hatte und ich ihr respektvoll und nicht herablassend geantwortet hatte. Ich hielt das für eine gute Ausgangssituation, damit sie mir ihre Version der Geschichte erzählte.
    »Also, ich wollte Sie vor allem bitten, mir alles zu erzählen, woran Sie sich von diesem Nachmittag noch erinnern.«
    »Das, was ich auch den Carabinieri erzählt habe, im Grunde.«
    »Nein, verzeihen Sie. Ich möchte Sie bitten, alles zu vergessen, was Sie in der Kaserne erzählt haben, die Umstände, unter denen Sie es erzählt haben und den ganzen Rest. Soweit das möglich ist, hätte ich gern, dass Sie mir die Dinge erzählen, als wäre es Ihre erste Aussage. Vielleicht können Sie die Perspektive noch ein wenig erweitern. Ich meine damit: indem Sie mir erzählen, wann Sie zu den Trulli gefahren sind, warum, wen Sie kennen und so weiter. Was auch immer Ihnen einfällt, damit Sie nicht an dem kleben, was Sie den Carabinieri gesagt haben.«
    Jetzt spielte ich nicht mehr Polizist. Das waren alles Dinge, die ich bei der Vorbereitung einiger wichtiger Prüfungen über Verhandlungstaktik gelernt hatte.
    Wenn wir etwas erzählt haben – und das gilt umso mehr, wenn wir es in einem formalen Zusammenhang erzählt haben, vor Gericht oder auf der Wache, für ein Protokoll – und es dann noch einmal erzählen sollen, neigen wir automatisch dazu, die erste Version noch einmal zu wiederholen, anstatt die direkten Erinnerungen an das Erlebte abzurufen. Dieser Mechanismus wird durch jede weitere Wiederholung noch verstärkt, und am Schluss erinnern wir uns gar nicht mehr an das Vorgefallene, sondern nur noch an die Erzählung des Vorgefallenen. Dieser Mechanismus macht es natürlich immer schwieriger, Details aufzuspüren, die beim ersten Mal durch die Maschen gefallen sind. Details, die oft bedeutungslos sind, sich aber unter Umständen als entscheidend entpuppen. Um diese Details zu finden, muss man die befragte Person von der Erinnerung an ihre Erzählung lösen und sie wieder mit der Erinnerung an das Geschehene selbst in Verbindung bringen. Was nicht immer gelingt.
    Ich erklärte Anita das zwar nicht alles, aber sie schien zu ahnen, dass es einen guten Grund für mein Anliegen gab. Sie schwieg einen Moment, als wollte sie sich auf das konzentrieren, worum ich sie gebeten hatte.
    »Ich kenne Manuela nicht, ich meine, ich habe sie erst an dem Wochenende in den Trulli kennengelernt.«
    »Waren Sie vorher schon einmal dort gewesen?«
    »Ja, mehrmals. Es ist ein außergewöhnlicher Ort, an dem man die unterschiedlichsten Leute trifft. Vielleicht waren Sie ja auch schon einmal dort?«
    Ich sagte, dass ich nie dort war, und sie erklärte mir, dass es sich um eine Anlage mit mehreren dieser Steinhäuser mit spitz zulaufendem Dach handelte. Mehrere Freunde hatten sie gemeinsam gemietet, und im Sommer fanden sich dort jede Menge Leute zusammen. Wenn man zusammenrückte, konnten bis zu dreißig Personen dort übernachten. Jeden Abend gab es Partys und Events. Es war eine Art Kommune für gut situierte junge Leute, die mehr oder weniger links

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