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Guido Guerrieri 04 - In ihrer dunkelsten Stunde

Guido Guerrieri 04 - In ihrer dunkelsten Stunde

Titel: Guido Guerrieri 04 - In ihrer dunkelsten Stunde Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Gianrico Carofiglio
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aber im letzten Moment sein und sagte einfach nur ja. Sie wand sich zu der Bestie, sagte ihr, ich sei ein Freund, und ich hatte beinahe den Eindruck, der Hund nicke mit dem Kopf.
    »Bevor ich ihn streichle, möchte ich dir noch sagen, dass ich mich weigere, ihn Pino zu nennen. Ich verstehe zwar, was deine Freundin zu dieser Wahl bewegt hat, aber ich bringe es einfach nicht über mich, ihn so zu nennen.«
    »Wie willst du ihn denn nennen?«
    »Er hätte Conan Doyle gefallen. Ich werde ihn Baskerville nennen, wenn du nichts dagegen hast.«
    Sie zuckte die Achseln und zog die Augenbrauen hoch, wie man es macht, wenn man es mit Verrückten zu tun hat. Ich näherte mich dem Hund und streichelte seinen Kopf, der hart wie Beton war und größer als meine ganze Handfläche.
    »Hallo, Baskerville, du bist also gar nicht so böse, wie du aussiehst?«
    Pino-Baskerville sah mich an mit Augen, die von weitem furchterregend wirkten, aus der Nähe hingegen sanfte Traurigkeit ausstrahlten. Ich kraulte ihn erst hinter dem erhalten gebliebenen Ohr und dann an der schwarzen, weichen und glänzenden Wamme. Da schloss der Hund die Augen und hob langsam den Kopf, als wolle er gleich in lautes, melancholisches Geheul ausbrechen, während er mir seine ungeschützte Kehle entgegenreckte.
    Und in diesem Moment überkam mich auf einmal eine Erinnerung wie schon den guten Proust.
    Den Kopf so zu heben und die Kehle so darzubieten, das war die typische Geste von Marcuse gewesen, dem schwarzen Schäferhund, den mein Großvater Guido vor dreißig Jahren gehabt hatte.
    Die Erinnerungen lösen sich nämlich nicht einfach auf und verschwinden. Sie bleiben da, unter der dünnen Kruste des Bewusstseins. Auch die, die wir für immer verloren geglaubt hatten. Manchmal bleiben sie ein Leben lang dort verborgen, andere Male hingegen passiert etwas, was sie wieder hochkommen lässt.
    Eine Madeleine, die in Lindenblütentee getaucht wird, oder ein großer Hund mit traurigen Augen, der einem die Kehle zum Streicheln entgegenstreckt zum Beispiel.
    Diese hündische Geste vollkommenen und anrührenden Vertrauens ließ eine Flut von Erinnerungen hereinbrechen, die sich innerhalb weniger Augenblicke zu einer einheitlichen, harmonischen Landkarte einer fernen Vergangenheit zusammenfügten.
    Bis dahin war es mir nie gelungen, meine Kindheitserinnerungen anders aufzurufen als in Einzelteilen, die nicht zusammengehörten und wie unidentifizierbare Bruchstücke eines Schiffswracks auf dem Wasser trieben. Jetzt jedoch fand alles seinen Platz in einem geheimnisvollen Ganzen aus Bildern, Klängen, Gerüchen, Namen und Gegenständen. Alles gehörte zusammen.
    Der Plattenspieler, das Schoko-Vanille-Eis am Stiel, die Vierfarb-Kugelschreiber, Pippi Langstrumpf, die Fruit-of-the-Loom-T-Shirts, Crocodile Rock, der Corriere di ragazzi , Rintintin, Ivanhoe, Der schwarze Pfeil , E le stelle stanno a guardare mit Alberto Lupo, die Hit-Parade, Mille e una sera mit der Erkennungsmelodie von den Nomadi, Die Helden des Trickfilms mit der Erkennungsmelodie von Lucio Dalla, Die Zwei mit Tony Curtis und Roger Moore, das gelb-orange Bonanza-Rad mit dem langen Sattel, Subbuteo, die Oro-Saiwa-Butterkekse, von denen man immer vier zugleich in die Milch tauchte, der Duft nach Zuckerwatte auf dem Rummel der Fiera del Levante, das Wassereis, das die Zunge bunt färbte, die Lakritzschnecken, Capitan Miki, Paperinik, Tex Willer, Die Fantastischen Vier , Sandokan, Tarzan, Stinkbomben in Geschäfte werfen und ganz schnell weglaufen, der grüne Prinz, den zu sehen Unglück brachte, wenn man nicht sofort eine bestimmte Geste machte, um es abzuwenden, Mafalda, Charlie Brown und jenes Mädchen, das zwar keine roten Haare hatte, dafür aber echt war und mich nie wahrgenommen hat, der knetbare Radiergummi, das Kicken mit dem Super Santos nach der Schule, der Micky-Maus-Club, der Flipper, jener kleine Junge, der sich nicht wie wir an all diese Dinge erinnern kann, weil sein Vater beim Fahren einnickte, als sie mit ihrem Fiat 124 aus den Ferien zurückkamen, die Mützen mit Ohrenschützern, Lego, Monopoly, Fußballbilder tauschen, das erste Programm, das zweite Programm, und das war’s dann auch schon, Kinderstunde, Coccoina-Kleber aus der Dose, Pizzabrot, die Milch von der Zentralmolkerei, das funzelige Licht in der Küche meiner Großeltern, die Schulbücher, die Schnellhefter, die Federmäppchen, der Geruch nach Kindern, nach Pausenbrot, nach Plastilin, die Stille auf dem Hof nach der Pause, die

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