Guido Guerrieri 04 - In ihrer dunkelsten Stunde
mir nicht leisten konnte, und als Erwachsener, als ich es mir hätte leisten können, nicht, weil es dann schon zu war, sich in Luft aufgelöst hatte wie so viele Dinge jener Zeit.
»Nach dem Essen schlug er vor, auf ein Glas zu ihm zu gehen.«
Ihr Ton war nüchtern, doch die Spannung in der Erzählung wuchs spürbar. Eine Geschichte, deren Ende bekannt war. Ein Ende, von dem man wusste, dass es nicht gut war, und das man trotzdem weder verhindern noch ändern konnte.
»Ich dachte, er lebt allein, und wir gingen in seine Wohnung. In Wirklichkeit war er verheiratet und hatte auch einen Sohn in meinem Alter. Er brachte mich in eine Art Apartment, und alles nahm seinen natürlichen Lauf. Als ich ging, gab er mir dreihunderttausend Lire.«
Sie machte eine Pause und sah mich ein paar Sekunden lang an, bevor sie weitersprach. Jetzt lag eine Spur von Herausforderung in ihrer Stimme.
»Soll ich dir was sagen? Es gefiel mir sehr gut, dieses Geld einzustecken. Ich hatte das Gefühl, mein Leben in die Hand zu nehmen.«
»War es dir nicht unangenehm?«
»Ich weiß, dass das unglaubwürdig klingt, aber nein. Ich hatte schon mit ein paar Jungs geschlafen, und ehrlich gesagt, hatte ich damals auch einen Freund. Das hier war etwas anderes, und trotzdem war es, wie ich dir sagte, ganz natürlich. Wir hatten vorher nicht über Geld gesprochen, aber irgendwie war es von Anfang an klar, dass es sich um eine Art Arbeit handelte. Keine angenehme, aber auch keine abstoßende.«
Sie machte wieder eine Pause. Ich wusste nicht, was ich sagen, und auch nicht, was ich denken sollte.
»Nach diesem Abend ging ich noch öfter mit diesem Herrn aus. Er hieß Vito. Vor ein paar Jahren hörte ich, dass er gestorben ist, und das hat mir leidgetan. Mit ihm war es nicht wirklich so, als würde ich mich prostituieren. Ich meine, wir trafen uns, gingen essen, danach hatten wir Sex, und gelegentlich machte er mir ein Geschenk. Ich habe keine Erfahrung mit Ehen, aber ich stelle mir vor, dass es in vielen Fällen genau so läuft.«
Diese Worte hingen eine Weile in der Luft. Der Himmel riss an ein paar Stellen auf. Ich hätte mich gern auf eine Bank gesetzt, um weiterzureden, aber es war alles nass. Also gingen wir weiter, zusammen mit Pino, der allerdings wenig zur Unterhaltung beitrug.
»Dann kam der Wendepunkt.«
»Was meinst du damit?«
»Eines Abends, als wir auf dem Weg zu seiner Junggesellenwohnung waren, fragte Vito, ob ich ihm einen Gefallen tun wolle.«
»Was für einen Gefallen?«
»Er wollte, dass ich mit einem anderen Mann ausging. Es war jemand, mit dem er geschäftlich zu tun hatte und der am nächsten Tag in die Stadt kommen sollte. Er sagte, es sei ein sehr distinguierter und auch gut aussehender Mann. Vito wollte, dass er sich wohlfühlte, denn das wäre dem Abschluss eines großen Auftrags förderlich. Ich weiß nicht mehr, ob ich etwas dazu sagte oder still blieb. In der nächsten Einstellung sieht man ihn lächeln, die Brieftasche zücken und zehn Hunderttausend-Lire-Scheine herausholen, die er mir reicht. Dann wurde ich noch in die Wange gekniffen, mit Zeige- und Mittelfinger. Ich war ein braves Mädchen, das sich zu benehmen wusste.«
Ich wollte schon sagen, dass ich den Rest lieber nicht hören wollte. Doch dann merkte ich, dass ich es zwar einerseits nicht hören wollte, andererseits aber doch. Ein Gefühl, das ich manchmal bei Büchern oder Filmen habe, wenn sie von Themen handeln, die mir unangenehm sind und die ich lieber meide.
»Danach fragte er mich noch einige Male, ob ich Lust hätte, mit einem seiner Freunde auszugehen, aber in diesen Fällen zahlte nicht er. Mit der Zeit hatte ich mir dann einen eigenen Kundenstamm aufgebaut. Durch Mundpropaganda. Unter meinen Kunden waren auch zwei Richter. Einer ist in der Zwischenzeit gestorben, aber der andere ist ein hohes Tier, und ich sehe sein Bild oft in der Zeitung. Er blickt immer sehr ernst auf diesen Fotos.«
Sie ließ den Satz in der Luft hängen. Der Sinn war offensichtlich, dass dieser Richter nicht immer so ernst war, wie er auf den Fotos wirkte. Sie sagte nicht, wer er war, und das gefiel mir, auch wenn ich mich ein klein wenig zurückhalten musste, um sie nicht zu fragen.
»Ich weiß, dass das alles sehr schäbig wirkt, und vermutlich ist es das auch. Aber – ich weiß nicht, wie ich es sagen soll – es war nicht leicht, das zu erkennen. Meine Begegnungen ähnelten weitgehend echten Verabredungen. Viele Kunden gingen mit mir zum Essen, ins Kino oder ins
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