Guido Guerrieri 04 - In ihrer dunkelsten Stunde
schon lange nicht mehr gesehen. Wir telefonieren von Zeit zu Zeit. Dann sind wir freundlich und unbeteiligt wie zwei Fremde. Was wir ja auch sind.«
Die trockene Ehrlichkeit und die sparsamen Worte, in die Nadia diesen Tatbestand fasste, gefielen mir sehr.
»Wie dem auch sei, mit siebzehn Jahren fing ich an. Ich hatte mein Fachabitur gemacht und mich für Betriebswirtschaft eingeschrieben, aber mir wurde sehr schnell klar, dass ich überhaupt keine Lust zum Studieren hatte. Vielleicht nur nicht zu diesem Studium, aber das macht im Grunde keinen großen Unterschied.«
Während sie sprach, suchte ich in meinem Gedächtnis nach ihrem Geburtsdatum, das ich damals in den Prozessakten gelesen hatte. Aus mir unbekannten Gründen vergesse ich niemals das Alter von Leuten, selbst von solchen, die ich kaum oder nur aus beruflichen Gründen kenne.
Ich überschlug rasch: Als sie neunzehn Jahre alt war, war ich vierundzwanzig. Was hatte ich mit vierundzwanzig gemacht? Ich war damals gerade mit dem Studium fertig. Ich hatte Sara noch nicht kennengelernt, die später meine Frau werden sollte. Meine Eltern waren noch am Leben. In gewisser Weise war ich zu der Zeit, als Nadia ihre Abenteuer in der wirklichen Welt begann, noch ein kleiner Junge gewesen, auch wenn ich fünf Jahre älter war.
»Ich wollte unabhängig sein, von zu Hause weggehen, ich ertrug den grauen Familienalltag nicht mehr. Ich ertrug die ärmliche Wohnung nicht mehr, die drei Zimmer-Küche-Bad voller geschmackloser Einrichtungsgegenstände, und den Geruch nach Mottenpulver, der aus ihrem Schlafzimmer kam. Ich ertrug ihre sinnlosen Unterhaltungen nicht mehr und ihre armseligen Zukunftspläne: das Auto abbezahlen, ein billiges Zwei-Sterne-Hotel für den Urlaub finden, die Jahre bis zu Papas Pensionierung zählen. Ich ertrug das Knausern mit dem Haushaltsgeld nicht mehr, die aufgewärmten Nudeln zum Abendessen, die abgelegten Kleider meiner Schwester, die abwaschbare Tischdecke. Aber eines ertrug ich am allerwenigsten.«
»Was?«
»Mein Vater trank gewöhnlich etwas Wein zu den Mahlzeiten, wenig, aber regelmäßig. Wir konnten uns natürlich keine teuren Weine leisten, und deshalb wurde Wein aus Getränkekartons gekauft. Auf dem Tisch stand immer einer bereit, und ich erinnere mich noch genau, wie es ablief: Meine Mutter schnitt den Karton mit der Schere auf, mein Vater füllte sein Glas halb voll und verdünnte den Wein dann mit Wasser. Nach dem Essen verschloss meine Mutter den Karton dann wieder mit einer Wäscheklammer und brachte ihn in die Küche. Am Abend stellte sie ihn wieder auf den Tisch. Mein Gott, wie schrecklich ich das fand! Es gibt Momente, in denen ich dieses Gefühl noch einmal erlebe, und dann glaube ich zu ersticken wie damals. Andere Male hingegen werde ich von Gewissensbissen heimgesucht.«
»Das ist unvermeidlich, glaube ich.«
»Tja, ich glaube auch. Wie dem auch sei, ich war ein hübsches Mädchen und fing an, als Hostess für eine Agentur zu arbeiten, die Kongresse, politische Veranstaltungen und Shows organisierte. Einer der Organisatoren eines pharmazeutischen Kongresses fragte mich, ob ich ihm nach der Arbeit noch beim Essen Gesellschaft leisten wollte. Er war um die fünfzig, sehr distinguiert, sehr höflich. Ich nahm die Einladung an und nannte ihm eine Adresse, die weit weg von meiner wirklichen Wohnung war, für die ich mich schämte.«
»Wo wohntest du?«
»In einem Sozialbau, in der Nähe von Redentore, vielleicht kennst du die Salesianer-Schule?«
»Ich gehe dorthin zum Boxen.«
»Boxen? Meinst du damit, dass du dich prügelst?«
»Ja.«
»Du bist nicht ganz normal, und das weißt du, nicht wahr?«
»Erzähl weiter.«
»Er holte mich mit einem Ferrari ab, und wir gingen in ein berühmtes Restaurant, eines von denen, die für mich unerreichbar waren. Ich erinnere mich, als ob es heute wäre. An alles erinnere ich mich: an die Tischdecke, das Silberbesteck, die Gläser, die Ober, die mich wie eine Dame behandelten, obwohl ich nur ein junges Mädchen war. Und ich erinnere mich an alles, was wir aßen, und an den Wein, den wir tranken. Es war ein Brunello, die Flasche musste ein Vermögen kosten, und ich habe das Gefühl, den Geschmack und den Duft des Weins vor mir zu haben, während wir uns hier unterhalten.«
»Welches Restaurant war das?«
Sie nannte mir den Namen. Ich kannte ihn, es war eines jener Restaurants, die vor zwanzig Jahren in der Provinz Mode waren; ich war nie dort gewesen. Als Junge nicht, weil ich es
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