Guido Guerrieri 04 - In ihrer dunkelsten Stunde
guter Anwalt und sehr professionell bist.«
»Du warst aber auch sehr ernst. Die ideale Mandantin, die keine unnützen Worte macht und keine übertriebenen Vorstellungen hat.«
»Ich musste doch ernst wirken. Ich wollte nicht als das erscheinen, was ich war, eine Hure, wenn auch eine der Luxusklasse. Ich dachte mir, dass man in diesem Kontext jede Form von Weiblichkeit falsch interpretieren würde.«
Sie hielt einen Augenblick inne, als denke sie über das nach, was sie gesagt hatte.
»Oder vielleicht auch richtig. Wie dem auch sei, das Einzige, was ich mir erlaubte, war, dir am Schluss ein Buch zu schenken. Erinnerst du dich?«
»Selbstverständlich. Es war Die Revolution der Hoffnung von Erich Fromm.«
»Ich hatte den Eindruck, dass du es schon hattest, obwohl du das verneintest und sagtest, du würdest dich freuen, du hättest es schon lange lesen wollen und würdest gleich damit anfangen.«
Ich lächelte. Ich erinnerte mich nicht, diese Worte gesagt zu haben, aber das war meine typische Antwort für solche Fälle: Wenn man mir ein Buch schenkt, das ich schon habe, tut es mir leid, den Schenker zu enttäuschen, also lüge ich.
»In der Tat hatte ich es schon gelesen.«
Sie lächelte, aber etwas in ihren Augen gab mir einen inneren Ruck, unverhältnismäßig stark und ohne Zusammenhang mit der Episode mit dem Buch. Als hätte sich für einen Augenblick eine Tür geöffnet, um mich einen Blick auf eine schreckliche Traurigkeit werfen zu lassen.
»Und danach?«
»Wonach?«
»Nach dem Prozess.«
»Ach so. Ich war immerhin schlau genug, nicht wieder damit anzufangen. Ich hatte eine Menge Geld gespart, das ich gut angelegt hatte. Risikoarme Fonds mit geringen, aber sicheren Zinsen, drei Wohnungen in der richtigen Gegend, die gut vermietet waren, und eine vierte, in der ich selbst wohnte. Ich konnte es mir tatsächlich leisten, in Rente zu gehen, so lange, bis ich entschieden hätte, was ich mit der zweiten Hälfte meines Lebens anfangen wollte. Ich machte ein paar Reisen, auch längere. Und dann entdeckte ich das, wovon ich dir vorhin im Lokal erzählt habe. Aber die Ärzte waren gut und das Ganze ist in kurzer Zeit über die Bühne gegangen. Als ich zurück war nach meinen Reisen und meiner Krankheit, habe ich mich an der Uni eingeschrieben.«
»An welcher Fakultät?«
»Moderne Literatur und Geisteswissenschaften. Ich mache alle Prüfungen! In schätzungsweise zwei Jahren werde ich fertig sein.«
»Hast du schon ein Thema für deine Examensarbeit?«
Sie lächelte wieder, aber diesmal waren keine Schatten dabei. Höchstens ein Aufblitzen von Dankbarkeit dafür, dass ich sie ernst nahm.
»Noch nicht. Aber ich möchte sie in Filmgeschichte machen. Ich liebe Filme.«
Ich sagte nichts. Im Gehen sah ich verstohlen zu ihr hinüber, aber sie blickte nach vorn, ohne wirklich etwas anzusehen. Ein paar Minuten vergingen.
»Ich hatte auch einen Freund. Den ersten und bis jetzt letzten meines zweiten Lebens. Den ersten, dem ich nicht verheimlichen musste, wie ich mein Geld verdient hatte.«
»Und wie ist es mit ihm ausgegangen?«
»Er war – ist – ein Idiot. Und deshalb hat es geendet, wie es mit einem Idioten eben enden muss. Nach knapp zehn Monaten war es einfach aus.«
»Und danach?«
»Danach war nichts mehr.«
Ich versuchte mir auszurechnen, wie viel Zeit seitdem vergangen war. Sie merkte es und ersparte mir die Mühe.
»Seit beinahe einem Jahr gehe ich nicht mehr mit Männern aus, um es mal so auszudrücken.«
Ich fand es passender, nichts zu sagen.
»Es kommt mir vor, als würde ich mein Leben rückwärts leben, wenn du verstehst, was ich meine.«
Ich nickte, aber ich weiß nicht, ob sie es sah, denn sie blickte weiterhin nach vorn.
»Und das Chelsea Hotel?«
»Das ist der letzte Abschnitt der Geschichte. Die Uni macht mir Spaß, aber das reicht nicht aus. Zu viel Zeit zum Nachdenken, das ist nicht immer gut.«
»Fast nie.«
»Eben. Deshalb beschloss ich, mir eine Arbeit zu suchen. Die Idee für das Chelsea Hotel kam mir bei einem Gespräch mit einem schwulen Freund. Ich mag die Öffnungszeiten, wir machen um acht Uhr abends auf, um vier Uhr früh ist Schluss, und dann schlafe ich bis mittags. Ich finde es schön, jeden Abend dort zu sein und Leute zu treffen, dadurch fühle ich mich weniger allein.«
Auf der anderen Straßenseite ging ein Junge mit einem Mischlingshund vorbei, der wütend losbellte und versuchte, sich von der Leine loszureißen. Pino-Baskerville drehte den Kopf in seine
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