Guido Guerrieri 04 - In ihrer dunkelsten Stunde
Richtung, blieb stehen und sah ihn an. Er bellte nicht, er knurrte nicht, er machte keine Anzeichen, sich auf ihn zu stürzen, was ihm ja nicht schwergefallen wäre, da er nicht angeleint war. Er sah ihn bloß an, aber ich stellte mir vor, dass in seinem Kopf schlimme Bilder vorbeizogen, dass er die Geräusche wieder erlebte, den metallischen Geschmack von Blut, den Schmerz des abgerissenen Ohres, Reißzähne, Pfoten, Leben und Tod. Nadia flüsterte ihm einen Befehl ins Ohr, und die Bestie legte sich mit einer irgendwie geometrischen Bewegung nieder, so dass sie wie eine Sphinx dalag. Sie blickte nicht einmal mehr auf die andere Straßenseite.
Dem Jungen gelang es schließlich, seinen hysterischen Hund fortzuzerren, die nächtliche Stille kehrte zurück, und wir liefen und redeten weiter. Die Regenwolken rissen immer mehr auf, was meine gute Laune hob.
»Glaubst du, dass ich dir die ganze Wahrheit erzählt habe? Oder denkst du, dass ich etwas beschönigt habe?«
»Niemand sagt die ganze Wahrheit, vor allem, wenn er über sich selbst spricht. Aber wenn du mich das fragst, bedeutet das, dass du das schon weißt und aufpasst. Deshalb nehme ich an, dass du etwas erzählt hast, was der so genannten Wahrheit sehr nahe kommt.«
Sie sah mich mit einem Ausdruck an, der neugierig war und zugleich besorgt über die unerwarteten Konsequenzen einer Enthüllung.
»Sagt wirklich keiner die Wahrheit?«
»Die ganze Wahrheit sagt keiner. Diejenigen, die behaupten – und womöglich sogar glauben –, immer ehrlich zu sein, sind die Gefährlichsten. Sie wissen nicht, dass Lügen unvermeidlich ist, sie sind sich dessen nicht bewusst und sind deshalb Gefangene ihrer selbst.«
»Gefangene ihrer selbst. Das klingt gut.«
»Ja, Gefangene ihrer selbst und unfähig zu erkennen, wer sie sind. Versuche einmal, einen dieser ›Ich-sage-immer-die-Wahrheit‹-Menschen zu fragen, wie er arbeitet, was seine Fähigkeiten sind, wie seine Beziehungen zu seinen Mitmenschen sind oder irgendetwas anderes, was mit dem Bild zu tun hat, was er oder sie von sich selbst hat. Dann wirst du eine interessante Entdeckung machen.«
»Welche?«
»Dass sie darauf keine Antwort haben. Sie werden Allgemeinplätze sagen, Klischees, oder vielleicht schreiben sie sich auch Eigenschaften zu, die sie zwar gern hätten, aber ganz eindeutig nicht besitzen. Eigenschaften, die sich auf das Bild beziehen, das sie von sich selbst haben. Weißt du, wer Alan Watts ist?«
»Nein.«
»Er war ein englischer Philosoph. Er war ein Kenner fernöstlicher Kulturen, der ein wunderschönes Buch über den Zen-Buddhismus geschrieben hat. Watts sagt, ein ehrlicher Mensch ist einer, der genau weiß, dass er ein Aufschneider ist und trotzdem ganz natürlich agiert. Nach dieser Theorie wäre ich auf halber Strecke: Ich weiß zwar, dass ich ein Aufschneider bin, schaffe es aber noch nicht, natürlich damit umzugehen.«
»Du spinnst ganz schön. Wirklich.«
»Ich hoffe, ich darf das als Kompliment verstehen.«
»Es ist eines.«
»Ich glaube, wir sollten langsam ins Bett gehen«, sagte ich und sah auf die Uhr.
»Stimmt, du hast ja eine richtige Arbeit und kannst in der Früh nicht stundenlang ausschlafen wie ich.«
»Ich bring dich noch zum Auto.«
»Das ist nicht nötig. Es sei denn, du möchtest heimgefahren werden. Ich weiß ja nicht, wo du wohnst. Wenn es weit weg ist, nehmen wir das Auto, und ich fahre dich heim.«
»Ich wohne gleich um die Ecke.«
»Dann brauchst du mich nicht zum Auto zu begleiten.«
»Danke für das Gespräch und auch für alles andere.«
»Ich danke dir.«
»Baskerville ist im Grunde ein lieber Kerl.«
»Stimmt.«
Nach einem Moment des Zögerns neigte sie sich zu mir und küsste mich auf die Wange. Die Bestie stufte die Geste Gott sei Dank nicht als Angriff ein und verzichtete darauf, mich zu zerfleischen.
»Tschüss, gute Nacht«, sagte sie.
»Tschüss.«
»Ist das nicht absurd?«
»Was?«
»Ich bin rot geworden.«
»Das habe ich nicht gemerkt.« Wenn ich es darauf anlege, gelingen mir wirklich bescheuerte Kommentare.
»Tja, jetzt gehe ich wirklich.«
»Bist du sicher, dass du allein nach Hause gehen kannst?«
Der Satz entfuhr mir eine Sekunde, bevor ich Pinos Blick auffing. Er hatte die geduldige Miene, die man denjenigen vorbehält, die zwar nicht böse, aber eindeutig etwas beschränkt sind.
19
A m nächsten Tag bat ich Maria Teresa in mein Zimmer. Für alles, was Mandanten und Akten aus der Zeit vor dem Umzug betraf, wandte ich mich
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