Guido Guerrieri 04 - In ihrer dunkelsten Stunde
immer noch an sie. Sie wusste immer genau und sofort, wo sie suchen musste, und erinnerte sich an jedes einzelne Schriftstück.
»Erinnerst du dich an Quintavalle? Er war einer von dieser Gruppe …«
»Natürlich erinnere ich mich. Ich mag es zwar nicht, wenn wir Dealer vertreten, aber das war wirklich ein netter und sehr wohlerzogener Typ.«
»Ja, der ist nett. Er hat sich schon seit mehreren Jahren nicht mehr bei uns gemeldet.«
»Dann haben sie ihn entweder erwischt, oder er dealt nicht mehr. Was mich sehr freuen würde.«
»Vielleicht hat er auch einfach den Anwalt gewechselt.«
»Das ist unmöglich. Du hast ihm damals buchstäblich das Leben gerettet. Bei dieser Anklage einen Vergleich auszuhandeln …«
»Weißt du noch, wer der Staatsanwalt war?«
»Aber sicher.«
»Dann weißt du auch, dass es nicht nur mein Verdienst war. Der würde seine Eltern auf dem Sklavenmarkt verkaufen, wenn er dadurch einen Fall loswerden könnte. Wie auch immer, haben wir eine Telefonnummer von Quintavalle? Ich muss mit ihm reden.«
»In der Akte haben wir die bestimmt. Sofern sie sich nicht geändert hat.« Maria Teresa kennt sich aus mit Dealern. Sie wechseln ständig ihre Telefone, um nicht abgehört zu werden, und ihre Nummern sind deshalb sehr kurzlebig. Das gilt allerdings vorwiegend für die Telefonnummern, die sie für die Arbeit verwenden. Die privaten behalten sie unter Umständen länger.
Ich bat Maria Teresa, im Archiv nachzusehen, und fünf Minuten später kam sie mit einem Zettel zurück, auf dem die Nummer stand.
Quintavalle antwortete beim zweiten Klingeln.
»Guten Tag, ich bin Guido Guerrieri, ich wollte …«
»Herr Anwalt, guten Tag! Wie schön, von Ihnen zu hören. Welche Ehre. Wie komme ich dazu? Ich habe doch nicht etwa vergessen, die letzte Rechnung zu bezahlen?«
»Guten Tag, Damiano, wie geht es dir?«
»Prima, Herr Anwalt. Und Ihnen?«
Ich hasse zwar den Ausdruck »prima«, aber bei Quintavalle störte er mich nicht.
»Mir geht es auch prima. Ich muss dich etwas fragen, aber nicht am Telefon. Könntest du mir den Gefallen tun, in meine Kanzlei zu kommen?«
»Aber klar doch. Wann soll ich kommen?«
»Wenn es heute noch ginge, würdest du mir einen Gefallen tun.«
»Ginge es um sieben?«
»Etwas später wäre besser, dann bin ich mit meinen Terminen fertig, und wir können in Ruhe sprechen.«
»Gut, dann komme ich um acht.«
»Danke. Und, Damiano …«
»Ja?«
»Weißt du, dass wir umgezogen sind? Die Kanzlei ist nicht mehr da, wo sie früher war.«
»Ich weiß, ich weiß. Um acht bei Ihnen.«
Wenn ich mit Leuten wie Damiano Quintavalle spreche – einem Berufskriminellen, der von den Einnahmen aus illegalen Geschäften lebt –, zweifle ich noch mehr als normalerweise an meiner Fähigkeit, die Welt zu verstehen und das so genannte Gute vom so genannten Bösen zu trennen.
Quintavalle ist in erster Linie ein intelligenter junger Mann, der aus einer normalen Familie kommt, studiert hat, auch wenn er keinen Abschluss gemacht hat, der Zeitung liest und manchmal auch ein Buch. Außerdem ist er, wie Maria Teresa sagt, sympathisch. Witzig, ohne ordinär zu sein. Und gut erzogen. Und freundlich.
Sein Geld verdient er allerdings mit dem Verkauf von Kokain.
Er gehört zu den Dealern, die allein oder in ganz kleinen Gruppen arbeiten und zu Hause ihren Stoff verkaufen, so wie der Mandant, den ich in der Woche davor ohne Erfolg vor dem Kassationsgericht vertreten hatte. Er bekommt die Bestellungen, zum Beispiel für eine etwas speziellere Party, erscheint dort wie ein Gast, gibt das ab, was bestellt wurde, nimmt das Geld entgegen (mit einem Aufschlag für den Lieferservice) und geht wieder. Oder aber er liefert in ganz Italien aus, an wohlhabende Kunden, die sich nicht die Hände schmutzig machen und sich von den normalen Dealern fernhalten wollen.
Er ist mehrmals in Verdacht geraten, aber da er extrem vorsichtig ist und sehr geschickt mit dem Telefonieren, haben sie ihn nur ein Mal mit dem Stoff erwischt. Die Menge war so gering, dass er mit ein paar Wochen Haft und einem sehr milden Vergleich davonkam. Quintavalles Frau hat eine Parfümerie, sein Sohn geht auf die Mittelschule. Der Junge ist ein sehr guter Schüler, er hat nur ein Problem: Er will Anwalt werden. Er glaubt, sein Vater sei ein Geschäftsmann, der aus beruflichen Gründen viel unterwegs ist. Was ja auch stimmt. In gewisser Weise.
Punkt acht Uhr war Quintavalle in der Kanzlei. Ich stand ganz selbstverständlich auf – ich
Weitere Kostenlose Bücher