Guido Guerrieri 04 - In ihrer dunkelsten Stunde
muss zugeben, dass ich das nicht bei allen meinen Mandanten tue – und schüttelte ihm die Hand.
»Guten Abend, Herr Anwalt, wie geht’s?«
»Gut, und dir?«
»Ganz gut so weit, auch wenn es zur Zeit nicht einfach ist.«
»Weshalb?«
»Ach, ich weiß nicht. Vielleicht werde ich einfach alt, aber ich spüre so etwas wie eine Bedrohung, eine Gefahr, die irgendwo lauert.«
Er verwendete genau diesen Ausdruck: eine Gefahr, die irgendwo lauert. Das war eine ungewöhnliche Wendung für einen professionellen Dealer.
»Es kommt mir vor, als könnte jeden Tag plötzlich ein Unglück geschehen. Dass sie mich verhaften aufgrund von handfesten Beweisen für das, was ich in diesen Jahren getan habe. Oder – was wahrscheinlicher ist – dass einer dieser Gauner, die heute in der Stadt das Sagen haben, kommt und sagt, dass ich nicht mehr selbstständig arbeiten darf, sondern nur unter seinem Kommando.«
»Welche Gauner denn?«
»Stimmt, Sie haben ja nichts mit den Prozessen gegen das organisierte Verbrechen zu tun und wissen das nicht, aber die Lage ist schlimm. Neue Gruppen sind entstanden, die die ganze Stadt beherrschen wollen, sie haben sich zusammengetan, um in allen Stadtteilen die Kontrolle zu übernehmen, vor allem über Erpressung, Wucher und natürlich Drogen. Aber in dem Moment, in dem tatsächlich einer kommt und mich zu seinem Angestellten machen will, ist vielleicht der richtige Zeitpunkt gekommen, um aufzuhören und mir eine anständige Arbeit zu suchen.«
»Das wäre doch gar keine schlechte Idee. Es könnte auch sein, dass gar nichts passiert, aber dass dein Unterbewusstsein dir sagt, dass du lieber aufhören solltest.«
»Kann sein. Meine Frau sagt in etwa dasselbe. Das Problem ist, dass man mit ehrlicher Arbeit zu wenig verdient. Und ich habe mich an meinen Lebensstil gewöhnt.«
»Ihr habt doch das Geschäft, ihr werdet schon nicht verhungern. Und dein Sohn ist auch bald erwachsen.«
»Tja, vielleicht ist es ja auch deswegen. Ich habe keine Angst vor dem Gefängnis, aber die Vorstellung, dass mein Sohn herausfinden könnte, womit ich mein Geld verdiene, macht mich verrückt. Aber Sie haben mich bestimmt nicht kommen lassen, um über meine Zukunft zu reden. Was kann ich für Sie tun?«
»Ehrlich gesagt, weiß ich selber nicht genau, was ich brauche. Und ich weiß auch nicht, wie ich es erklären soll.«
»Am besten erzählen Sie alles von Anfang an.«
Das war eine gute Idee. Ich erzählte ihm also die ganze Geschichte. Ich sagte ihm, dass ich herausfinden wollte, was mit Manuela passiert war – von der er nie gehört hatte –, und dass der einzige Anhaltspunkt mit Michele Cantalupi zu tun haben schien, der ein regelmäßiger und ziemlich eifriger Kokainkonsument war. Aus diesem Grund hatte ich ihn zu mir kommen lassen und bat ihn um seine Hilfe. Kannte er Cantalupi, hatte dieser Mann jemals etwas bei ihm gekauft oder hatte er auch nur seinen Namen gehört?
»Cantalupi, haben Sie gesagt?«
»Ja. Ich weiß nicht, ob dir das weiterhilft, aber er scheint ziemlich gut auszusehen.«
»Michele. Der Name ist mir nicht neu, aber er ist auch ziemlich häufig. Haben Sie vielleicht ein Foto von ihm?«
»Nein. Ich kann mir aber eines besorgen. Mal abgesehen von dem Foto wollte ich dich noch etwas fragen. Nehmen wir an, dieser Typ dealt in gehobenen Kreisen. Müsstest du ihn dann kennen?«
»Das ist nicht gesagt. Ich kenne natürlich einen Haufen Leute, aber die Stadt ist groß, und es gibt sehr viel mehr Kokainkonsumenten – und folglich auch Verkäufer –, als man annehmen würde. Manchmal bringe ich fünfzig Gramm auf ein Fest mit und erfahre danach, dass alles an dem Abend aufgebraucht wurde. An einem einzigen Abend, wenn Sie sich das vorstellen können.«
»Hast du etwas dagegen, wenn ich dir ein paar Fragen dazu stelle, wie das System funktioniert?«
»Nein, ich verstehe das. Sie sind mein Anwalt, und es geht um eine wichtige Angelegenheit. Fragen Sie nur alles, was Sie wissen wollen, frei von der Leber weg.«
»Wie ist es möglich, dass ein junger Mann, der solche Partys besucht, von einem einfachen Konsumenten zu einem wird, der …«
Ich merkte, dass es mir schwerfiel, das Wort Dealer zu verwenden, als würde ich damit Quintavalle beleidigen, der ja den Beruf ausübte, der mit diesem hässlichen Wort gemeint war. Er bemerkte meine Verlegenheit.
»Zu einem Dealer. Keine Sorge, Herr Anwalt, ich bin nicht beleidigt. Das läuft meistens nach einem Schema ab. Nehmen wir an, es gibt eine
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