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Guido Guerrieri 04 - In ihrer dunkelsten Stunde

Guido Guerrieri 04 - In ihrer dunkelsten Stunde

Titel: Guido Guerrieri 04 - In ihrer dunkelsten Stunde Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Gianrico Carofiglio
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hatte Lust, und ich konnte mein Glück kaum fassen, als ich mich am nächsten Tag neben ihr wiederfand, mitten in einer Meute von Jugendlichen, die zusammen mit uns John Travolta, Olivia Newton-John und ihren Freunden zusahen – von denen einige eindeutig betagt und unglaubwürdig bis grotesk in der Rolle von achtzehnjährigen Oberschülern waren –, wie sie tanzten und sangen und Dialoge aufsagten, die jenseits jeder Realität waren.
    Vor ihrem Haus gab Barbara mir einen flüchtigen Kuss auf die Lippen und schenkte mir dann noch, bevor sie im Hauseingang verschwand, ein strahlendes, verheißungsvolles Lächeln. Oder besser, ein Lächeln, in dem ich lauter Verheißungen sah.
    In jener Nacht machte ich vor Freude kein Auge zu, und am nächsten Tag beschloss ich, sie zu überraschen, indem ich sie von der Schule abholte. Vorher hatte ich mich listig informiert, wann ihre Klasse am Montag aus hatte, und hatte mich vergewissert, dass der Zeitpunkt mit meinem Stundenplan kompatibel war.
    Während ich mit langen, schnellen und glücklichen Schritten auf das naturwissenschaftliche Sacchi-Gymnasium – Barbaras Schule – zuging, malte ich mir in wundervollen Szenen unsere gemeinsame Zukunft aus.
    Kurz darauf lernte ich etwas Wichtiges: Es ist nie eine gute Idee, jemanden zu überraschen, wenn man keine genauen Koordinaten von der Situation hat.
    Die Schulglocke läutete wütend und ausgelassen nach der letzten Stunde, und kurz darauf ergoss sich ein lärmender Strom Jugendlicher auf die Straße. Ich sah sie beinahe sofort inmitten der fließenden Masse von Pullovern, Jacken, Schals, Rucksäcken, Mützen und dunklen Haarschöpfen, aber heute kann ich mich nicht mehr an ihr Gesicht erinnern. Auch wenn ich mir sehr viel Mühe gebe, bringe ich nur ein pubertäres Schönheitsideal aus blonden Haaren, blauen Augen, hohen Wangenknochen, strahlendem Teint und regelmäßigen Zügen zustande.
    Ich stand etwa fünfzig Meter von ihr entfernt. Ich ging auf sie zu und lächelte, doch dann erlosch mein Lächeln wie in einem Trickfilm. Gegen den Schwarm der Schüler schwimmend und mir – in jeder Hinsicht – zuvorkommend, drang ein Junge bis zu ihr durch, gab ihr einen Kuss und nahm sie bei der Hand.
    Was dann passierte, weiß ich nicht mehr, weil ich mich, ohne lange nachzudenken, in den nächsten offenen Hauseingang rettete, von Scham und gleich darauf von Verzweiflung gebeutelt.
    Ich blieb etwa zehn Minuten in dem Hauseingang stehen und ging erst, als ich sicher sein konnte, dass Barbara und der Junge, der aller Wahrscheinlichkeit nach ihr Freund war, weg waren und ich nicht mehr Gefahr lief, von irgendjemandem in diesem Zustand gesehen zu werden.
    In der Zwischenzeit war ich nämlich in Tränen ausgebrochen, während ein Strudel von Worten und Fragen in meinem Kopf herumwirbelte. Warum nur war sie mit mir ins Kino gegangen? Warum hatte sie mir einen Kuss gegeben? Wie konnte man nur so grausam sein?
    Ich war mehrere Wochen lang untröstlich. Als es mir langsam besser ging, begegnete ich ihr zufällig an einem Nachmittag in der Via Sparano. Ich sah sie aus der Ferne, wie sie mit zwei Freundinnen vor der Laterza-Buchhandlung stand. Ich hingegen war allein da.
    Ich richtete mich auf und versuchte, stolz und selbstbewusst auszusehen.
    Ich dachte, ich müsste mich zusammennehmen, eine gleichgültige Miene aufsetzen, sie nur beiläufig grüßen. Nicht verächtlich – das wäre unter meine Würde gewesen –, sondern einfach gleichgültig. Sie würde vermutlich versuchen, mich aufzuhalten, aber ich würde einfach weitergehen. Würdevoll und desinteressiert.
    Das wäre doch gelacht.
    Wir waren an einem Nachmittag ausgegangen, hatten einen Film gesehen und uns einen Kuss gegeben. Na und? Das bedeutete doch nicht, dass wir gleich heiraten mussten. So etwas kommt vor zwischen modernen, emanzipierten Jugendlichen wie uns. Man geht aus, man sieht einen Film, man küsst sich, verabschiedet sich und damit hat sich die Sache.
    Wir waren einander schon ganz nah, aber sie hatte mich noch nicht gesehen. Sie redete angeregt mit ihren Freundinnen, als mir auf einmal der Gedanke kam, dass sie und der Junge vielleicht gar nicht mehr zusammen waren. Also, überlegte ich, wäre es besser, wenn ich nicht allzu hart und grausam zu ihr war. Gut, sie war mir gegenüber unfair gewesen, aber das kam vor. Vielleicht sollte ich ihr eine zweite Chance geben, und in diesem Fall wäre es besser, eine würdevolle, aber nicht direkt feindselige Miene zu zeigen.

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