Gut genug - Erzählung
sagt, du hast ihn doch angemeldet. Ich sage, Flo ist noch viel zu klein, aber sie sagt, man muß sie bei der Geburt spätestens angemeldet haben, sonst kommen sie nicht mehr rein. Ich sage, ich mag mich mit dir nicht streiten, Ali, aber ich fürchte, die Sache ist anders. Und aus Gehässigkeit sage ich, halt doch das Kind mal eben, ich gehe nur rasch aufs Klo, und setze ihr Flo auf den Schoß. Es ist eine Gemeinheit, weil natürlich kein Mensch je ein Kind anfaßt, der keine Kinder hat, und dann sind sie furchtbar erschrocken und stellen sich ungeschickt an, und sobald man sich ungeschickt anstellt, fängt das Kind erst recht an zu schreien. Als ich zurückkomme, ist Ali vollgesabbert und angewidert. Flo brüllt bei meiner Mutter weiter. Er bringt sich gerade bei, mit geschlossenem Mund zu brüllen, weil er raushat, daß sie ihm sofort den Löffel reinsteckt, sobald er den Mund aufmacht. Ali lädt uns alle zur Hochzeit ein. Bea sagt, dann bin ich schon nicht mehr da. Mein Vater sagt, und wann kriegen wir den jungen Mann zu Gesicht, aber es ist gar kein junger Mann, sondern ein Fortbildungsleiter. Meine Eltern freuen sich, und dann macht meine Mutter das Licht aus und den Weihnachtsbaum mit den elektrischen Kerzen an, und wir tauschen unsere Geschenke. In diesem Jahr hat mir Ali das Buch von dem Mann geschenkt, der sich ausgedacht hat, als Mutter mußt du einfach bloß gut genug sein. Von meiner Mutter habe ich eine beidhändige Henkeltasse bekommen, einen Altstadtbaukasten und einen handillustrierten seidenen Schal. Von Bea eine Flasche Parfum. Von meinem Vater zweihundert Mark. Danach hat sich Bea mit meinem Vater über die verschiedenen Kreditkartensysteme in den verschiedenen Ländern unterhalten, und bevor das Gespräch wieder auf Ali und ihren Fortbildungsleiter kam und sich womöglich herausstellen würde, daß er Chinese ist und meine Eltern Chinesen nicht mögen, habe ich Flo angezogen und bin mit Bea gegangen. Flo ist im Auto eingeschlafen. Bea hat gesagt, und wie geht es dir, und ich habe gesagt, und dir. Bea hat gesagt, wir könnten ein bißchen herumfahren. Ich habe gesagt, machst du das öfter, und sie hat gesagt, daß sie es manchmal macht. Dann sind wir losgefahren. Als wir zurückkamen, war es Nacht geworden, und Flo wurde langsam wach.
Inzwischen kannte ich ein paar Leute mit Kindern. Manchmal sind welche gekommen und haben ihre Kinder zu Flo gesetzt, und manchmal bin ich mit Flo zu welchen gegangen und habe ihn zu den anderen Kindern gesetzt, und jedenfalls war es albern, weil die Kinder sich einfach nicht kennen wollten, und schließlich hat Flo sich eines Tages das Laufen beigebracht, und dann ist dieses Atomwerk hochgegangen, und es ist eine regelrechte Naturkatastrophe gewesen. Die letzte Naturkatastrophe, die ich erlebt hatte, war das Glatteis, ich glaube, 79 oder 80 gewesen. Bei Glatteis ist es im Grunde nicht kompliziert, du mußt einfach nur vorsichtig gehen, alte Leute am besten gar nicht wegen dem Oberschenkelhalsbruch, den sie vom Stürzen kriegen, und anschließend der Nekrose. Bei Glatteis ist es so: Alle lachen und sagen, o je, so ein Wetter und Achtung. Aber das jetzt war kompliziert, weil alle die ganze Zeit durcheinandergeredet haben und sich nicht einigen konnten, wie es geht. Ob man Europa nicht lieber aufgeben soll und am besten gleich evakuieren, bevor es noch auseinanderfällt, oder ob es das alles in Wirklichkeit gar nicht gibt, wenn man nichts davon sehen kann. Die Leute mit Kindern, die wir inzwischen kannten, haben auch durcheinandergeredet und nicht gewußt, welche Zahlen und Wörter sie auswendig lernen müssen, um ihre Kinder zu retten. Im Grunde ist eine Naturkatastrophe eine Weile lang abwechslungsreich, und das ist natürlich der Sinn. Vielleicht auch die Absicht. Komischerweise habe ich zu der Zeit gerade das Buch von dem Mann gelesen, der sich ausgedacht hat, eine Mutter muß gut genug sein, er hatte im Krieg viele Radiosendungen gemacht, als die englischen Kinder aus den Städten raus sollten wegen der deutschen Bombenangriffe. Sie haben damals alle Kinder aus London aufs Land geschickt, und natürlich hatten die Mütter Angst. Vielleicht auch die Väter, wenn sie nicht gerade im Krieg waren. Sie hatten Angst wegen der Bomben, und dann hatten sie Angst wegen der Kinder auf dem Land, weil sie weg waren, und man nicht wußte, wer für sie sorgt und wie diese Leute Bananenquark machen und ihren Haferbrei kochen, daß er den Kindern auch schmeckt, und dieser Mann hat
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