Gute Leute: Roman (German Edition)
sein Vorgesetzter habe wohlwollend reagiert, habe ihm aber zu verstehen gegeben, dass er sich zunächst mit Stepan Kristoporowitsch beraten müsse, dem für die Ermittlungen gegen die Gruppe verantwortlichen Abteilungsleiter.
Maxim hatte Wein getrunken, und Sascha war der Verdacht gekommen, dass ihre Frage vom Vortag naiv war: Sicher hatte er bereits mit seinem Vorgesetzten gesprochen, ehe er bei ihr aufgetaucht war, und hätte er befürchten müssen, dass er ihr nicht würde helfen können, wäre er gar nicht erschienen. Sie wog diesen Verdacht gegen die Möglichkeit ab, dass sie ihm damit schrecklich Unrecht tat, und kam zu dem Schluss, dass sie die Wahrheit wohl niemals erfahren würde.
»Wenn wir heiraten, werden sie uns dann die Zwillinge zurückgeben?«
Er hatte diese Frage erwartet. »Im Jahre 37 hat der NKWD nach einem Beschluss des Politbüros eine geheime Anweisung erlassen, dass Kinder von Verrätern, die das fünfzehnte Lebensjahr noch nicht vollendet haben, in die Obhut des Staates überführt werden sollen, während Kinder, die älter sind, in jedem Fall gesondert verurteilt werden.«
»Aber Wlada und Kolja sind fast sechzehn, sie würden damit nicht automatisch in die Obhut des Staates gelangen.«
»Ein paar Monate mehr oder weniger, das kümmert keinen«, erwiderte er in amüsiertem Tonfall. »Sieh mal«, fügte er hinzu, als er begriff, wie sehr sie sein kleiner Scherz aufbrachte. »Ich werde alles in meiner Macht Stehende für sie tun, du weißt, dass ich den Hungerhaken immer gemocht habe, aber die Chancen sind bescheiden. Selbst den Sohn eines privilegierten Marschalls wie Yakir haben sie ins Gefängnis geworfen, ich erinnere mich nicht mehr, wie er hieß …«
»Pjotr, glaube ich«, murmelte sie. In den letzten Tagen, als ihre Eltern noch zu Hause waren, hatten Wlada und sie alle Präzedenzfälle für ihre Situation Revue passieren lassen.
»Ja, vielleicht. Viele Leute haben sich für ihn eingesetzt, und nichts hat geholfen. Eine Entscheidung zu verhindern ist möglich, eine Entscheidung aufzuheben jedoch kaum.«
Bei ihrer Hochzeit waren Kollegen aus seiner Abteilung und aus anderen Abteilungen zugegen gewesen, und Maxim nahm an, das Erscheinen mehrerer hochrangiger Persönlichkeiten sei ein gutes Zeichen dafür, dass man keinen Verdacht mehr gegen sie hegte und sie gerettet war. Zumindest in naher Zukunft würden sie ihr nicht zusetzen. Sie lief unter den Gästen umher in ihrem rosafarbenen Kleid mit dem Spitzenkragen, dem Brautkleid ihrer Mutter, und die ganze Zeit kroch die Angst über ihre Haut, die Angst vor dem gleißenden Scheinwerferlicht, das sie anstrahlen und den Gästen das ganze Bild offenbaren würde: eine kleine Verräterin im Kleid einer großen Verräterin, die zu zehn Jahren Sibirien verurteilt worden war, ohne Anrecht auf Briefkontakt. In ihrer Erinnerung war die Hochzeit ein nicht enden wollendes Spießrutenlaufen geblieben, bei dem sie die Gäste gemieden und überall nur Wortfetzen aufgeklaubt hatte, um vielleicht diese allerletzte Anschuldigung zu hören.
Nach der Hochzeit, als sie betrunken im Bett lagen, hatte sie ihn nach den Zwillingen gefragt, worauf er gelallt hatte: »Saschenka, Personen aus den höchsten Kreisen holen Erkundigungen ein, und wenn es Informationen gibt, werde ich dir sofort berichten.«
Ihr Körper lag neben ihm, und die Erinnerung an die Zwillinge kratzte in ihrer Kehle. Die große Wanduhr zeigte vier in der Früh; das Lärmen aus Semjons Datscha war verklungen, und durch das Fenster zeigte sich ihr Hof, der bereits von dem silbernen Glanz des morgendlichen Taus benetzt war.
Seit ihrer Hochzeit waren zwischen ihnen nur einige lakonische Sätze über die Zwillinge gefallen. Zwar hatte sie, als sie in Stjopas Abteilung zu arbeiten begann, herausgefunden, dass Maxim in der Organisation weit weniger einflussreich war, als er ihr und anderen gegenüber angedeutet hatte. Dennoch hätte er mehr für die Zwillinge erreichen können. Und zu lange taten sie beide, als wahrten sie irgendeine Alltagsroutine, als müssten nur Wochen und Monate vergehen, bis sie am Ende gar nicht umhin käme, sich mit der Trennung von Kolja und Wlada abzufinden.
Es schnürte ihr die Kehle zu. Lud sie ihm jetzt nicht eine andere, grausigere Schuld auf – ihre eigene nämlich?
»Sag, Maxim«, meinte sie und löste sich mit einer schnellen Bewegung von dem schlafenden Körper. »Du hast mir nie gesagt: Warst du es, der Muraschowski in den Kopf geschossen hat, oder
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