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Gute Leute: Roman (German Edition)

Gute Leute: Roman (German Edition)

Titel: Gute Leute: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Nir Baram
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saumselig zeigten, was seiner Ansicht nach ein schwerer Fehler sei, da es nichts Wunderbareres für ein Paar gebe als ein Kind, in dem seine Liebe in ihrer Reinheit bewahrt bleibe.
    »Ein Philosoph und kein Abteilungsleiter sitzt da im zweiten Stock …«, murrte Sascha – zum Glück neigte Stjopa für gewöhnlich nicht zu solchem Pathos. Die Steine auf dem Bord sahen mit einem Mal aus wie Kindergesichter. Vor langer Zeit hatte Nadjeschda Petrowna zu Sascha gesagt, mit ein bisschen Phantasie könne jede Sache auf der Welt wie ein Teil des menschlichen Körpers erscheinen, und das mache alles sehr viel interessanter. Man könne sich dann zum Beispiel in einen Schornstein verlieben. Und es sei auch möglich, zu einem Dichter des Jahreszeitenwechsels zu werden, wie Varlamow.
    »Aber es ist etwas Wahres an seinen Worten«, flüsterte Maxim, »wie viele Jahre hält unsere Liebe schon? Ich habe nie eine andere Frau geliebt. Wenn du dir Sorgen machst, das Kind könnte deine Zukunft beeinträchtigen – sei unbesorgt. Stepan Kristoporowitsch hat sich mir gegenüber verpflichtet, dir deine Position freizuhalten, wann immer du willst, und am Vormittag, wenn du bei der Arbeit bist, kann meine Mutter aufpassen …«
    »Wir reden noch darüber«, unterbrach sie ihn. »Nicht jetzt.«
    Sie machten sich auf den Weg zu Semjons Datscha, stapften den Hügel hinab, den kalten Nachtwind im Gesicht. Ihre Stiefel hinterließen Spuren in der morastigen Erde, und Sascha bückte sich und strich mit dem Finger über den Boden. Als ob man Lehm berührte. Maxim wirkte nachdenklich. Abermals gewahrte sie etwas, was es in ihrem Alltag in Leningrad nicht gegeben zu haben schien: das Phantasiegespinst, das Maxim um ihre Ehe wob. Anfangs hatte er diese Fäden vielleicht wissentlich gesponnen, später aber mit natürlicher Selbstverständlichkeit. Jetzt hatte in seinem Kopf bereits ein Modell Form angenommen, in das sämtliche Erinnerungen Eingang fanden. Ein gemeinsames Kind war nur noch eine Frage der Zeit, ein Jahr, vielleicht zwei, und gewiss dachte er nicht erst daran, seit Stepan Kristoporowitsch sich eingeschaltet hatte. Das Sonderbare war nur, dass in dem Moment, in dem er die Frage nach einem Kind aufgebracht hatte, jener leichte Abscheu, den sie gegen ihn empfand, von einem stärkeren Gefühl überrollt wurde: Sie beneidete ihn um seinen ehernen Glauben an ihre Ehe. Freudig erregt sah er dem noch ungeborenen Kind entgegen, sie jedoch quälte sich unentwegt wegen der Ereignisse, die zu ihrer Ehe geführt hatten, und wegen des Verlustes, den sie erlitten hatte, jetzt, da sie keinen Menschen mehr in ihrer Nähe wusste, der ihr tatsächlich etwas bedeutete.
    Sie malte sich aus, wie er diese Heucheleien seinem Kind erzählen würde, und Ekel überkam sie. Die Worte fielen ihr ein, die er ihr auf dem Parkplatz gesagt hatte, an jenem Abend der NKWD-Zusammenkunft: »Das einzige, was konstant bleibt, ist die erschreckende Elastizität unserer Seele.« Damals hatte sie angenommen, er meine die menschliche Angst und die Bereitwilligkeit der Bürger, sich mit jeder Lüge abzufinden, einen Menschen zu rühmen und eine Woche später seinen Tod zu fordern. Jetzt verstand sie, dass er nicht Lügen und Selbstbetrug gemeint hatte, sondern jene Geschmeidigkeit, die Menschen befähigt, nachts im Bett zu liegen und sich die fürchterlichsten Verbrechen auszumalen, um am Morgen mit dem Gefühl zu erwachen, alles sei in Ordnung. Jene das Bewusstsein steuernde Wendigkeit, die sogleich jedes Fältchen glattstrich in der Wahrheit, zu der die Menschen aufsahen.
    Die Wände von Semjons Datscha waren mit purpurrotem Samt bespannt, und auch der Holzboden war blutrot lackiert. Das Ganze erinnerte Sascha an das rote Zimmer aus »Jane Eyre« – eine Hölle für sündige Mädchen, wie ihre Mutter es genannt hatte. Zigarettenqualm hing über dem Roulettetisch wie ein verästelter Baum, unter dem sich Menschen und Arme bewegten, einander schubsten und sich verflochten. Auf dem grünen Filzstoff wurden Jetons in allen Farben hin und her geschoben.
    Maxim war sogleich vom Qualm verschluckt. Sie hörte ihn rufen: »Hier, hier ist der Schurke, der euch ausnehmen wird«, und bekam von Ferne mit, wie er auf Schultern klopfte und Freudenrufe ausstieß. Plötzlich war er ihrem Blick entzogen und tauchte dann wieder auf. Offenbar hatte er gleich mit seinem ersten Einsatz gewonnen. »Siebenundzwanzig Rot, siebenundzwanzig Rot …«, rief er. Auf einmal brüllte er: »Oh, ja,

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