Gute Leute: Roman (German Edition)
zwar nicht so ganz, hatte aber weiß Gott nicht vor zu fragen.
Und auf einmal begriff er etwas, was ihn schon seit geraumer Zeit beschäftigt hatte: Weller war ein Abbild der Vergangenheit, doch die Zukunft, das war Kresling.
***
Endlich hatte er einen Plan.
Ungeduldig erwartete er den Montagmorgen. Am Sonntag ging er Weller aus dem Weg, verkroch sich und klagte über Rippenschmerzen. Weller bot sogleich seine Hilfe an: Vielleicht sollte er einen Arzt rufen? Oder ihm eine Suppe kochen?
Im Prinzip war es ganz einfach: Jeder Mensch kam irgendwann in seinem Leben an einen Punkt, an dem er entweder einen großen Sprung nach vorne tat oder in einem Dämmerzustand versank. Und wenn er schließlich erwachte, wäre er entsetzt ob der Gelegenheiten, die er verpasst hatte. Bedauerlicherweise hatten sich auf dem Höhepunkt seines großen Sprungs bei Milton Dinge ereignet, die außerhalb seiner Kontrolle lagen. Erst bei jenem Treffen mit Weller hatte er begriffen, dass die Idee, die er bei Milton entwickelt hatte, nicht aus der Welt war, sondern lediglich neu modelliert werden musste. Nachdem er das »Modell des nationalen polnischen Menschen« (oder des »slawisch-asiatischen Menschen«, je nachdem, wo man es präsentierte) ersonnen hatte, waren einige Monate des Behagens und der Befriedigung vergangen, in denen er vorankam, neue Kontakte knüpfte und lernte, sich an einen bürokratischen Apparat hinter Tausenden von Türen zu gewöhnen. Doch zuletzt war seine Arbeit in zermürbender Routine versandet. Zwar hatte seine Dienststelle eine Art Beratungsagentur eingerichtet, die unzählige Stellen mit Einschätzungen und Lagebeurteilungen versorgte, mehr aber auch nicht. Sie waren so etwas wie externe Revisoren, die die eingereichten Pläne überprüften, zumeist ohne zu wissen, ob die Kunden – und jede Organisation galt ihnen als Kunde – ihre Ratschläge und Empfehlungen berücksichtigten. In letzter Zeit beschlich ihn daher immer öfter dieses vertraute Gefühl, in einer Ebene zu marschieren, ohne Berge und Hügel oder Flüsse. Eine öde Landschaft, man marschierte und verstand nicht: Wenn das das Leben war, warum dann immer weiterlaufen?
Am Montagmorgen war er früher als gewöhnlich im Büro. Im vergangenen März, als sie weitere zehn Mitarbeiter eingestellt hatten, war ihr Büro in die kleine Seitenstraße Chmjelna umgezogen. Anders als die umliegenden großen Boulevards lag die Chmjelna zumeist im Schatten. Er stellte sich vor, wie er mit Klarissa dort spazieren gehen würde, wusste genau, wo sie Halt machen und ein Eis essen, ein feudales Abendessen genießen und danach auf einen letzten Kaffee ins »Blikle« gehen würden.
Im Büro ließ er sich in seinen Sessel sinken und rief Wolfgang an, bat ihn, ein Treffen mit seinem Vorgesetzten zu vereinbaren. Heute würde er ein Memorandum für Kresling aufsetzen, würde auch ein paar Anmerkungen anfügen zu Himmlers letztem Dokument hinsichtlich der Pläne für Polen, von dem ihm Martin Luther, unter dem Siegel der Verschwiegenheit, eine Kopie beschafft hatte.
Und so schrieb er:
»Das Bestreben, Polen in kleine ethnische Gruppen aufzusprengen und die nationale polnische Identität zu unterdrücken, ist verständlich und historisch gerechtfertigt, jedoch unvereinbar mit dem polnischen Selbstgefühl. Das Modell hat bereits in der Vergangenheit warnend darauf hingewiesen, dass Umsiedlungen in begrenztem Umfange sowie eine Entfernung der Intelligenz aus Schlüsselpositionen gewiss erforderliche und notwendige Schritte sind, die Polen als nationale Einheit aber unmöglich auszumerzen sind, wie es etwa im Fall der Kaschuben, der Ukrainer oder der Lemken möglich erscheint. Der nationale polnische Glaube ist stark und tief verwurzelt.
Wir haben bereits aus den Vorgängen in Wolhynien gelernt, dass zwischen der Zahl der polnischen Staatsbürger, die ursprünglich ausgesiedelt werden sollten, und der Zahl derjenigen, die bislang tatsächlich ausgesiedelt worden sind, eine gewaltige Diskrepanz besteht. Ausgesiedelt wurden lediglich zehn bis zwanzig Prozent. Die Distriktgouverneure zeigen sich außerstande, die phantastischen Aussiedlungsquoten, die ihnen auferlegt wurden, zu erfüllen. Auch dieses Scheitern hat das Modell richtig vorausgesehen und diesbezüglich vor unverantwortlichen Plänen – der geistigen Frucht von Scharlatanen, die sich als Experten ausgeben – gewarnt, welche diesen Teil des Landes ins Chaos stürzen würden. Ebenso mussten wir erfahren, dass
Weitere Kostenlose Bücher