Gute Leute: Roman (German Edition)
ja wisse, seien bisher nur sehr wenige Personen in das Vorhaben eingeweiht worden.
Endlich machte sie sich von den Karten los und nahm an einem Kopfende des Tisches Platz, mit weitaufgerissenen Augen, als träumte sie im Wachen. Jetzt wäre er bereit gewesen, seine Wohnung in Berlin zu verwetten, dass er der erste war, der die Karten zu Gesicht bekommen hatte. Ihre Hoffnung, Lob für ihre Arbeit zu ernten, war zwar nicht enttäuscht worden – er hatte ihr reichlich Komplimente gemacht –, doch das genügte ihr nicht. Wie eine Schauspielerin, die für eine Zugabe noch einmal auf die Bühne geht, fragte sie ihn abermals nach seiner Meinung zu den Karten, und diesmal überhäufte er sie mit wahren Lobeshymnen. Immerhin, so schien ihm, war sie jetzt beruhigt.
Dann erhob sie sich wieder und begann, den mehrstufigen Plan der Parade in einem gründlich vorbereiteten Vortrag zu beschreiben. Wenn man über einige kleinere Übertreibungen hinwegsah, war dieser von mitreißender Energie. Die Genossin Weißberg hätte eine hervorragende Verkaufsfrau werden können, sagte sich Thomas.
Danach unternahmen sie einen Spaziergang. In dem Augenblick, in dem sie den Raum mit den Karten verließen, wurde ihm leichter zumute, außerdem sah er, dass der verträumte Schleier von ihren Augen gewichen war, und hoffte, schon bald vernünftig mit ihr reden zu können. Seine Laune besserte sich merklich, und auf dem Trödelmarkt blieb er an einem Verkaufsstand stehen und bestand darauf, ihr ein Geschenk zu machen. Sie wählte ein Taschenmesser mit Feile und Schraubenzieher aus. Er wunderte sich, zahlte aber und reichte es ihr mit einer Verbeugung: »Bitte sehr, ein Geschenk des deutschen Auswärtigen Amtes. Aber benutzen Sie es bitte nicht gegen uns!«
Sie ließen die Stadt hinter sich und gingen auf ein kleines Wäldchen zu, das sie ihm zeigen wollte. Ihr Plan sah vor, hier ein gemeinsames Mittagessen für die ranghohen Offiziere beider Armeen auszurichten. Er lockerte den Knoten seiner Krawatte und zog das Jackett aus. Sie wanderten über raschelnde Blätter, schlüpften unter einem Tunnel aus Kletterpflanzen hindurch, den der Wind niedergedrückt hatte, und standen auf einer Lichtung, die von Birken und Eichen gerahmt war. Am Morgen hatte sich die Sonne noch hinter Wolken verborgen, doch jetzt war sie um ihr Versteck gebracht und verbreitete ihren Glanz. Das Licht fiel in Alexandra Weißbergs Augen und ließ sie golden aufblitzen. Sie deutete auf die Wipfel der Bäume: »Schauen Sie, sie sehen aus wie Löwen.«
»Dichterphantasien«, neckte er sie. »Aus einem Kirchturm, einer Glocke und einem Vogel kreieren Sie architektonische Wunderwerke.«
Sie wirkte erleichtert und entspannt, und er hielt die Gelegenheit für günstig, ihr zu sagen, dass er nur für die erste Phase der Parade ganz ihrer Meinung sei. Hinsichtlich der beiden anderen Phasen jedoch bedauerte er sagen zu müssen, dass ihm die Planung missfalle: Der Rekurs auf die Geschichte sei in seinen Augen ein leeres Zitat. Welchen Nutzen sollten die Zuschauer aus diesem Sammelsurium von Gesten ziehen? Im Gegensatz zu Goethe und Croce sei er nicht der Meinung, dass die Kenntnis der Geschichte frei mache; recht eigentlich sei es doch so, dass sie uns die Hände fessle, die Phantasie einenge. Statt dass die Parade die Zukunft beschreibe, nötigen wir die Menge, den Blick zurück zu wenden. Und welche Landschaften wollen wir den Menschen vor Augen führen? Berge zerfetzter Leichen, unzählige gebrochene Bündnisse? Denn nur zwei Jahre nach der von ihr zitierten großen Parade war es eben jener Napoleon gewesen, gegen den sich die Kaiser verbündet hatten. Er hatte mit Zar Alexander die Bataillone des französischen und des russischen Heeres abgenommen, ehe das russische Heer dem vormaligen Feind half, just jenen österreichischen Kaiser zu bekriegen, mit dem Alexander zuvor die Regimenter abgeschritten hatte. Und auch dieser Pakt sollte einige Jahre später nicht verhindern, dass unzählige Menschen ihr Leben ließen, als Napoleon sich auf den Weg nach Moskau machte.
»Warum sollte die Parade nicht beispielsweise die Geschichte der Warenströme in Europa darstellen? Wir, die Deutschen, haben unlängst von den Amerikanern einige Flugzeuge gekauft, und jetzt sind es andere amerikanische Flugzeuge derselben Hersteller, die deutsche Städte bombardieren, während der Präsident der Vereinigten Staaten uns schmäht. Gleichzeitig aber machen amerikanische Firmen immer noch gute
Weitere Kostenlose Bücher