Gute Leute: Roman (German Edition)
Man hätte sofort festgestellt, dass du Deutscher bist, und ich wäre gezwungen gewesen, deine Identität preiszugeben. Dann hätten sie eure Botschaft über den Zwischenfall informiert und deine eigenmächtige Reise hierher wäre aufgeflogen. Man hätte dich des Verrats beschuldigt, hätte dich verschwinden lassen, und um unsere Parade wäre es geschehen. Ich kann dir hier nicht helfen. Wenn du jetzt in meinem Bett stirbst, sind wir beide gleichermaßen erledigt.«
Sie trat zum Tisch, zündete eine Kerze an und kniete sich dann vor den Zuber mit Wasser und wusch sich das Gesicht. Die Kälte ließ sie wieder klar werden. Sie tauchte die Finger ins Wasser und benetzte seine geschwollenen Lippen. Die Flamme der Kerze verbreitete einen goldenen Lichtschein in dem kleinen Zimmer, und jetzt sah sie, wie gerötet sein Gesicht war. Sein staubiges Haar klebte an der Stirn, und der Schweiß darauf hatte sich schwarz gefärbt. Speichel trat zwischen seinen Lippen hervor, sie ließ den Lappen sich mit Wasser vollsaugen und fuhr ihm damit über das Gesicht. Er erschauerte, als hätte ihn etwas gestochen. Erschrocken fuhr sie zurück und beugte sich über den Zuber. Wenn sie seinen Körper mit kaltem Wasser abspülte, würde das helfen?
Fieberhaft suchte sie in ihrer Erinnerung nach ähnlichen Erkrankungen: Wlada liegt fiebernd im Bett, Kolja kommt aus der Schule und stürzt neben dem Tisch zu Boden, Großvater liegt sterbend im Spiegelsalon, Mutter holt sich einen Sonnenstich in Varlamows Garten.
Das hilft jetzt nichts, brummte sie resigniert. Für all diese Kranken war nicht sie verantwortlich gewesen, immer hatte es jemanden gegeben, der ihr Anweisungen erteilte. Vielleicht drückte sein Gürtel? Sie nahm ihren Mut zusammen und öffnete ihn, löste die Knöpfe seiner Hose und zog sie bis auf die Knie hinunter. Sie fühlte sich wie ein Mensch, der sich wissentlich versündigt: Nie zuvor war sie einem Menschen begegnet, der soviel Wert auf den äußeren Schein legte und sich derart mühte, einen respektablen Eindruck zu machen. Wenn er jetzt erwachte, würde er gleich wieder ohnmächtig werden, kaum dass er seiner Lage gewahr würde.
Sie musterte seine Schenkel und seinen Bauch. Die blasse und schlaffe Haut stand in Widerspruch zu seiner vitalen Gesichtsfarbe. Dieser nackte Körper war nicht der, den sie sich vorgestellt hatte. Seine Kleidung und die Art und Weise, wie er sie trug, hatten ihn fülliger erscheinen lassen und ihm ein kräftiges, gesundes Aussehen verliehen.
Sie musste aufhören, ihn anzustarren. Wo waren seine Schuhe? Wahrscheinlich auf der Brücke verlorengegangen oder vom Fuhrwerk gefallen, das sie hergebracht hatte. Wie sollte er zurück nach Lublin kommen? Sein Hemd war zerrissen, seine Hose verstaubt und verdreckt. Sie überlegte bereits, in aller Herrgottsfrühe durch die Geschäfte zu ziehen und ihm Schuhe und ein Hemd zu kaufen, damit er am Bahnhof eine leidliche Erscheinung abgäbe. Dem Wachposten würde sie erzählen, die Konferenz habe sich in die Länge gezogen, sie hätten nicht auf die Zeit geachtet und plötzlich sei der Morgen angebrochen. Aber welche Erklärung sollte er den Deutschen in Lublin geben?
Er hatte mit dem Nachtzug zurückfahren wollen, womöglich hatte er Helfershelfer dort, wahrscheinlich hatte er jemanden bestochen. Doch würde er auch am Morgen die Grenze passieren und nach Lublin zurückkehren können, ohne festgenommen zu werden? Wenn er erst einmal erwacht wäre, würde er sich schon etwas ausdenken. Sie legte ihre Hand auf seine Brust, um sich zu vergewissern, dass sein Herz nicht stehen geblieben war.
Sie schaute zur Uhr: bereits Mitternacht. Wie lange er jetzt schon bewusstlos war! Wut erfüllte sie, und plötzlich schlug sie ihm ins Gesicht, ihr Neid auf die friedliche, sorglose Welt, in der er sich befand, verlieh dem Schlag eine wilde, unbeherrschte Kraft. Er stöhnte und gab ein ersticktes Wimmern von sich, ein weißer Speichelfaden tropfte auf sein Kinn, als wollte etwas aus ihm heraus. Bebend stand sie neben ihm, dieser Schlag war sonderbar, sie hatte ihn mit ihrer verbundenen Hand geschlagen und würde ihn erneut schlagen, das begriff sie, und es machte ihr Angst.
Sie zog sich vom Bett zurück und schritt zwischen dem Fenster und der Tür auf und ab. In der Wand steckten so viele rostige Nägel, dass man, wollte man sich dagegen lehnen, eine freie Stelle ertasten musste. Auf dem Fußboden lagen Zeitungsausschnitte verstreut, die mit der Parade im Zusammenhang
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