Gute Nacht, mein Geliebter
waren gezwungen, sie zu schlagen, um sie wieder loszuwerden. Geld hatte sie, ihr Vater war ja steinreich, sie schlich hinüber zum Geschäft und kaufte in der Frühstückspause Süßigkeiten, unglaubliche Mengen von Süßigkeiten. Sie versteckte sie für uns an verschiedenen Stellen, und wir krochen herum und wühlten danach. Ich erinnere mich, dass mich auch das wütend machte. Fräulein Messer kam ihr später auf die Schliche, es war natürlich verboten, den Schulhof zu verlassen, verboten, Süßigkeiten dabei zu haben, ich glaube, sie musste nach der Schule in der Klasse bleiben, die verknöcherte Alte wagte es bestimmt nicht, sie anzurühren, sie musste wohl einfach nur da sitzen und sich schämen.
Mit der Zeit machte sie uns wahnsinnig, sie war selbst schuld, wir waren nur Kinder, wir wussten es nicht besser …
Sie versuchte, mich zu kaufen. Und wer kaufen muss, ist immer unterlegen.
»Komm mit zu mir nach Hause nach der Schule, Berit, ich habe eine ganze Kiste voller Sandy-Pastillen.«
»Und was ist mit Jill?«
»Na gut, dann eben auch Jill.«
Es war dieses Haus, es lag unten am See, und sie hatten einen Badesteg, der geradewegs hinausführte, und ein großes, schönes Boot. Ihrem Papa gehörte der ganze Sandy-Konzern.
»Flora ist nicht zu Hause«, sagte sie.
»Flora … Ist das deine Mama?«
Sie zuckte mit den Schultern.
»Deine Mama ist tot, ne?«
»Ja.«
»Liegt sie auf dem Friedhof?«
»Ja.«
»Sie war Ausländerin, ne?«
»Sie kam aus Frankreich. Und wenn ich groß bin, ziehe ich auch dahin.«
»Konnte sie gar kein Schwedisch, deine Mama?«
»Doch.«
»Kannst du Französisch?«
»Papa bringt es mir bei. Wenn er Zeit hat. Aber im Moment hat er zu viel zu tun. Mit den Fabriken.«
Als wir uns dem Haus näherten, sagte sie, wir sollten leise sein. »Für den Fall, dass Flora noch nicht weggefahren ist.«
Was sie auch nicht war. Wir lagen hinter einem großen Steinblock und sahen, wie sie auf die Treppe hinaustrat. Sie war anders als unsere Mütter. Meine Mutter war alt, das wurde mir klar, als ich Flora sah. Sie war fast ebenso schmal wie wir. Sie war geschminkt wie ein Filmstar. Sie hatte Probleme, mit ihren hohen Absätzen über den Schotter zu gehen, sie sanken ein. Ein Wagen wartete oben an der Straße auf sie. Wir sahen, wie sie sich auf den Rücksitz setzte, der Fahrer hielt ihr die Tür auf und schloss sie wieder.
Sie bemerkte uns nicht.
»Sie fährt einkaufen«, sagte Justine. »Sie liebt es, einkaufen zu gehen.«
Sie trug den Schlüssel an einer Kette um ihren Hals. Sie musste sich auf die Zehenspitzen stellen, um aufzuschließen. Es war ein bisschen unheimlich, sich bei Justine zu Hause hereinzuschleichen, so als tue man etwas Verbotenes, als tue selbst sie etwas, was man nicht tun durfte.
Ihr Zimmer lag im ersten Stock. Es ähnelte meinem. Bett, Schreibtisch, Bücher, ein paar Puppen und Stofftiere. Sie kniete sich hin und zog eine Kiste unter dem Bett hervor.
»Tadaa!«, sagte sie und zerrte den Deckel herunter. Mit einer Geste, als würde sie zaubern.
Die ganze Kiste war voller Pastillenschachteln.
»Bedient euch«, sagte sie.
Wir nahmen jeder vier, Jill und ich, mehr konnten wir nicht tragen.
»Jetzt gehen wir aber, oder?«, sagte Jill.
Justine sprang auf und stellte sich in die Türöffnung.
»Wollt ihr sehen, wo meine Mama gestorben ist?«
Wir sahen einander an.
»Ja«, sagte ich.
»Dann kommt mit!«
Es war an dem großen Fenster im ersten Stock.
»Hier auf dem Fußboden lag meine Mama und starb.«
»Woran ist sie gestorben?«
»Da war etwas im Gehirn, was kaputtgegangen ist.«
»War deine Mama etwa verrückt?«, fragte Jill und kicherte.
»Nein …«
»Du bist doch verrückt, vielleicht hast du das von ihr«, sagte Jill.
»Das bin ich überhaupt nicht!«
Ich schielte zu dem glänzenden, braunen Fußboden hinüber und versuchte mir vorzustellen, wie die Frau, die Justines richtige Mama gewesen war, dort gelegen und ein wenig geröchelt hatte, ehe sie ihren letzten Atemzug tat.
»Hast du geweint?«, fragte ich.
»Wieso geweint?«
»Als deine Mama hier auf dem Fußboden lag und gestorben ist.«
»Bestimmt.«
Sie lief vor uns die Treppe hinunter.
»Wollt ihr noch etwas sehen?«
»Nein.«
»Doch, bitte. Wollt ihr? Wollt ihr noch etwas sehen?«
»Was denn?«
»Im Keller.«
»Wie, im Keller?«
Sie hatte schon die Tür zum Keller geöffnet und begann, die Treppe hinunterzugehen.
Jill sah mich an.
»Nun mach schon.«
An dem Keller war nichts
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