Gute Nacht, Peggy Sue
eingenommen wird. Ich hole dich um zwölf ab. In ein Restaurant deiner Wahl.«
»Ich kann nicht«, sagte sie mit einem Blick auf die Telefonnachrichten auf ihrem Schreibtisch. Sie entdeckte plötzlich, daß eine Nachricht von der Leichenhalle in Greenwood stammte. Es war die Antwort auf einen ihrer Anrufe vom Vortag.
»Kannst nicht?« fragte er. »Oder willst nicht?«
»Kann nicht«, wiederholte sie und faltete den Zettel zusammen. »Ich habe eine andere Verabredung.«
»Wohin gehst du?«
»Auf eine Beerdigung.«
Beerdigungen waren an sich schon eine trostlose Angelegenheit. Am trostlosesten allerdings war eine Armenbestattung. Da gab es keine aufhellenden Gladiolengestecke, keine Kränze, keine trauernde Familie, keine trauernden Freunde. Da war nur ein Sarg in einem morastigen Loch in der Erde – und die unvermeidlichen Offiziellen des Friedhofs. In diesem Fall handelte es sich um zwei griesgrämige Totengräber, denen der Regen von den Hüten tropfte, und den offiziellen Grabredner vom Friedhof Greenwood im schwarzen Anzug und mit Schirm. Peggy Sue Barnett wurde in der Gegenwart von Fremden zur letzten Ruhe gebettet.
M. J. stand unter dem schützenden Blätterdach eines Ahornbaumes und verfolgte die traurige und abstoßende Prozedur. Tonlos heruntergeleierte Texte unter bleigrauem Himmel. Der Regen klatschte auf den Sarg. Der Grabredner ließ ständig den Blick schweifen, als spräche er ein imaginäres Publikum an.
Zumindest ich bin da,
dachte M. J.
Wenn auch nur als eine weitere Fremde an ihrem
Grab.
In unmittelbarer Nähe stand Vince Shradick hinter einem Baum und beobachtete die Szene. Friedhöfe gehörten routinemäßig zu den Anlaufpunkten für die Jungs vom Morddezernat. Sie wußten, daß sich die Trauergemeinde bei Mordopfern erfahrungsgemäß in zwei Gruppen aufteilte: die, die aus Trauer und die, die aus Schadenfreude gekommen waren.
Im Fall von Peggy Sue Barnett war überhaupt niemand gekommen. Die wenigen Leute, die an diesem Nachmittag auf dem Friedhof waren, schienen ganz auf ihre eigenen Angelegenheiten konzentriert: Ein Pärchen brachte Blumen, eine ältere Frau sammelte faule Blätter von einem Grab, ein Gärtner ratterte in einem Golfcart voller Werkzeug vorbei. Sie alle warfen einen nur bedingt neugierigen Blick auf den Sarg.
Der Wolkenbruch ging schließlich in einen feinen Sprühregen über. Wie hinter einer Milchglaswand machten sich die Totengräber an die Arbeit, schaufelten Erde in das Grab. Shradick kam zu M. J. herüber und sagte leise: »Das war ein Flop! Keine Menschenseele ist aufgekreuzt.« Er fischte ein Handtuch aus der Tasche und putzte sich die Nase. »Und ich hole mir vermutlich eine Lungenentzündung zum Dank für meine Mühe.«
»Man sollte denken, daß es doch irgend jemanden geben müßte«, murmelte M. J.
»Hängt vermutlich auch mit dem Wetter zusammen.«
Shradick sah zum Himmel und schlug seinen Mantelkragen hoch. »Oder sie hatte wirklich keine Freunde.«
»Aber jeder kennt Leute … kennt irgend jemanden«, wiederholte M. J.
»Mann, ich glaube, diesmal sind wir wirklich in einer Sackgasse gelandet.« Shradick warf einen Blick auf das Grab. »Da führt wirklich kein Weg mehr raus.«
»Es gibt also nichts Neues?«
»Nada. Lou ist schon soweit, die Sache abzuschließen. Hat mir sogar abgeraten, heute hierherzufahren.«
»Aber Sie sind trotzdem gekommen.«
»Ich hasse ungelöste Fälle. Auch wenn Lou das alles für Zeitverschwendung hält.«
Sie sahen zu, wie die letzte Schaufel Erde auf das Grab geworfen wurde. Die Totengräber glätteten die Oberfläche, warfen einen letzten Blick auf ihr Werk und zogen ab.
Nach einer Weile ging auch Shradick.
M. J. blieb allein unter dem Ahornbaum zurück. Langsam überquerte sie den nassen Rasenstreifen zum Grab und starrte auf den nackten Erdhügel. Es gab noch keinen Grabstein, kein Schild. Nichts, was an die Frau erinnert hätte, die in dieser Grube lag.
Wer bist du gewesen, Peggy Sue Barnett? Warst du so allein auf dieser Welt, daß niemand merkte, als du sie verlassen hast?
»Das ist endgültig. Da kannst du nichts mehr machen«, sagte eine Stimme hinter ihr.
Sie drehte sich um. Es war Adam. Er stand einige Schritte hinter ihr. Ein Feuchtigkeitsfilm glänzte auf seinem Haar.
Sie wandte sich erneut dem Grab zu. »Ich weiß.«
»Warum bist du dann gekommen?«
»Vermutlich aus Mitleid mit ihr … mit jedem, dem keiner eine Träne nachweint.«
Adam trat neben sie. »Du weißt nichts über sie, M. J.
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