Gute Nacht: Thriller (German Edition)
Schatten.«
Kim ließ eine lange Stille eintreten, bevor sie mit leiser, trauriger Stimme antwortete. »Manchmal merken wir erst durch die Tiefe des Schmerzes, wie viel wir verloren haben.«
Stone nickte. »Mutter war ein Fels. Eine Rakete. Ein Vulkan. Eine Naturgewalt. Ich wiederhole: eine Naturgewalt. Das ist ein Klischee, aber ein zutreffendes. Sie zu verlieren war, als hätte das Gravitationsgesetz seine Gültigkeit verloren. Das Gravitationsgesetz, mit einem Schlag ungültig! Stellen Sie sich das vor. Eine Welt ohne Schwerkraft. Eine Welt, die von nichts zusammengehalten wird.«
In den Augen des Mannes schimmerten Tränen.
Mit Kims nächsten Worten hatte Gurney nicht gerechnet. Sie fragte Stone, ob sie einen Keks haben könnte.
Ein hysterisches Lachen platzte aus ihm heraus – ein Ausbruch, der ihm die Tränen über die Wangen laufen ließ. »Ja, ja, natürlich! Die Ingwerkekse kommen gerade erst aus dem Ofen. Außerdem gibt’s Schokosplitter mit Pekannüssen, Shortbread mit extra viel Butter und Hafer-Rosinen-Kekse. Alles heute gebacken.«
»Dann nehme ich Hafer-Rosinen«, sagte sie.
»Eine ausgezeichnete Wahl, Madam.« Er klang, als imitiere er trotz seiner Tränen einen devoten Sommelier. Er ging zur anderen Seite der Küche und holte einen Teller voll großer brauner Kekse. Kim hielt die dritte Kamera die ganze Zeit auf ihn gerichtet.
Als er den Teller auf den Tisch stellen wollte, erstarrte er mitten in der Bewegung. Er schaute Gurney an. »Zehn Jahre.« Erst jetzt schien ihm die volle Tragweite seiner Worte bewusst zu werden. »Genau zehn Jahre. Ein ganzes Jahrzehnt.« Seine Stimme schraubte sich dramatisch in die Höhe. »Zehn Jahre, und ich bin noch immer ein Nervenbündel. Was sagen Sie dazu, Detective? Ist mein jämmerlicher Zustand kein Ansporn für Sie, den gemeinen Mistkerl zu finden, zu verhaften und hinzurichten, der die unglaublichste Frau der Welt ermordet hat? Oder bin ich eine so groteske Gestalt, dass Sie bloß über mich lachen können?«
Auf theatralische Gefühlsbekundungen reagierte Gurney meist mit Reserviertheit. Und dieser Fall war keine Ausnahme. Seine Antwort blieb höflich und nichtssagend. »Ich tue, was in meinen Kräften steht.«
Stone bedachte ihn mit einem betont skeptischen Blick, ließ die Sache aber auf sich beruhen. Wieder bot er ihnen Kaffee an, den beide ablehnten.
Danach erkundigte sich Kim nach dem Leben des Mannes vor und nach der Ermordung seiner Mutter. Nach Stones ausführlichem Bericht zu urteilen, war das Davor in jeder Hinsicht besser gewesen. Sharon Stone hatte sich als überaus erfolgreiche Maklerin im Markt für Zweitwohnsitze etabliert. Und auch ihr Privatleben war in jeder Hinsicht exklusiv – ein Leben, dessen Luxus sie großzügig mit ihrem Sohn teilte. Kurz vor dem brutalen Anschlag des Guten Hirten hatte sie die Unterzeichnung einer Finanzierungsvereinbarung zugesagt, um Eric den Kauf eines renommierten Gasthofs und Restaurants im Weinanbaugebiet Finger Lakes zu ermöglichen.
Doch ohne ihre Unterschrift platzte der Deal. Statt das Leben eines elitären Gastronomen und Hoteliers zu genießen, wohnte er mit neununddreißig in einem Haus, dessen weitläufigen Grund er nicht annähernd instand halten konnte, und verdiente seinen Lebensunterhalt damit, dass er in der Traumküche seiner Mutter Kekse für regionale Feinkostläden und Pensionen produzierte.
Nach ungefähr einer Stunde klappte Kim das kleine Notizbuch mit ihren Stichworten zu und bot Gurney überraschend an, seinerseits Fragen zu stellen.
»Eine oder zwei hätte ich vielleicht, wenn es Mr. Stone nichts ausmacht.«
» Mr. Stone? Bitte nennen Sie mich Eric.«
»Also schön, Eric. Wissen Sie, ob Ihre Mutter vor ihrem Tod beruflich oder privat mit einem der anderen Opfer zu tun hatte?«
Er zuckte zusammen. »Da ist mir nichts bekannt.«
»Irgendwelche Feinde vielleicht?«
»Mutter hatte nichts übrig für Dummköpfe.«
»Das heißt?«
»Heißt, sie ist Leuten auf die Zehen gestiegen, hat sie vor den Kopf gestoßen. Im Immobiliengeschäft herrscht große Konkurrenz, vor allem auf dem Niveau, auf dem Mutter tätig war, und sie mochte es nicht, wenn ihr Idioten die Zeit gestohlen haben.«
»Erinnern Sie sich, warum sie sich einen Mercedes gekauft hat?«
»Natürlich.« Stone lächelte. »Exklusiv, stilvoll. Stark. Wendig. Deutlich über den anderen. Genau wie Mutter.«
»Hatten Sie in den letzten zehn Jahren Kontakt zu jemandem aus dem Umfeld der anderen Opfer?«
Wieder
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