Gute Nacht: Thriller (German Edition)
der Treppe zum ersten Stock gingen von dem großen Foyer mehrere Türen ab, doch der Staub auf den Klinken ließ erahnen, dass die Zimmer dahinter nur selten benutzt wurden.
Gemütlich war die Küche bloß insofern, als sie warm und erfüllt von Backaromen war. Der riesige Raum verfügte über alle professionellen Geräte, die vor ein oder zwei Jahrzehnten in den Wohnstätten der Wohlhabenden zum unerlässlichen Inventar gehört hatten. Die drei Meter hohe Dunstabzugshaube über dem Herd erinnerte Gurney an einen Opferaltar aus einem Indiana-Jones- Film.
»Meine Mutter war ein Qualitätsfan«, bemerkte der eiförmige Mann. Dann fügte er wie in einem bestürzenden Widerhall auf Gurneys Gedanken hinzu: »Sie war eine Dienerin vor dem Altar der Perfektion.«
»Wie lang wohnen Sie schon hier?«, fragte Kim.
Statt die Frage zu beantworten, wandte er sich an Gurney. »Ich weiß natürlich, wer Sie sind, und vermutlich wissen auch Sie, wer ich bin. Dennoch halte ich eine Vorstellung für angemessen.«
»Ach, wie dumm von mir!«, rief Kim. »Entschuldigen Sie vielmals. Dave Gurney, Eric Stone.«
»Es ist mir ein Vergnügen.« Mit einnehmendem Lächeln streckte Stone die Hand aus. Seine großen, regelmäßigen Zähne waren fast so weiß wie seine Schürze. »Ihr äußerst eindrucksvoller Ruf eilt Ihnen voraus.«
»Freut mich, Sie kennenzulernen.« Gurney schüttelte Stone die warme, weiche und unangenehm feuchte Hand.
»Ich hab Eric von dem Artikel meiner Mutter über dich erzählt«, erklärte Kim.
Nach einer verlegenen Pause deutete Stone auf einen pseudoantiken Kieferntisch an der vom Herd am weitesten entfernten Wand. »Nach Ihnen.«
Nachdem Gurney und Kim Platz genommen hatten, fragte Stone, ob sie etwas trinken wollten. »Ich habe Kaffees in verschiedenen Röstungen anzubieten und eine riesige Auswahl an Kräutertees. Außerdem hätte ich eine besondere Granatapfellimonade. Kann ich Sie in Versuchung führen?«
Beide lehnten ab, und Stone setzte sich mit übertrieben enttäuschter Miene auf den dritten Stuhl am Tisch. Kim nahm drei kleine Kameras und zwei Ministative aus ihrem Rucksack, montierte zwei der Kameras auf die Stative und richtete eine auf Stone, die andere auf sich.
Dann erläuterte sie ausführlich die Produktionsphilosophie – dass »die Leute von RAM « großen Wert auf eine möglichst schlichte, technisch unprätentiöse Präsentation der Interviews legten, die die Zuschauer an ihre eigenen Familienaufnahmen mit dem iPhone erinnern sollten. Das entscheidende Ziel war, dass alles einfach und echt blieb. Ein spontanes Gespräch, keine Szene nach Drehbuch. Bei normalem Zimmerlicht, nicht mit Bühnenscheinwerfern. Nicht professionell. Menschen wie du und ich. Und so weiter.
Ob Stone zu dieser Authentizitätserklärung eine Meinung hatte, war nicht zu erkennen. Er schien mit den Gedanken anderswo und konzentrierte sich erst wieder, als Kim ihre Bemerkungen abschloss. »Haben Sie dazu noch Fragen?«
»Nur eine.« Er fixierte Gurney. »Glauben Sie, er wird je gefasst?«
»Der Gute Hirte? Das möchte ich doch hoffen.«
Stone verdrehte die Augen. »In Ihrem Beruf geben Sie wohl oft solche Antworten – Antworten, die keine sind.« Sein Ton klang eher deprimiert als herausfordernd.
Gurney zuckte die Achseln. »Ich weiß bislang nicht genug, um mehr sagen zu können.«
Kim nahm letzte Anpassungen mit dem Sucher ihrer Stativkameras vor und schaltete beide auf HD -Filmaufnahme. Genauso machte sie es mit der dritten Kamera, die sie in der Hand behielt. Dann fuhr sie sich mit den Fingern durchs Haar, richtete sich gerade auf, glättete einige Falten an ihrem Blazer und setzte ein freundliches Lächeln auf.
»Eric, ich möchte mich noch einmal dafür bedanken, dass Sie bereit sind, an den Mordwaisen mitzuwirken. Unser Ziel ist eine ehrliche, nicht abgesprochene Darstellung Ihrer Gedanken und Gefühle. Nichts ist unzulässig, es gibt keine Tabus. Wir sind bei Ihnen zu Hause, nicht in einem Studio. Die Geschichte ist Ihre, die Emotionen sind es ebenfalls. Fangen Sie einfach irgendwo an.«
Ausgiebig und zittrig holte er Luft. »Ich fang mit der Antwort auf Ihre Frage von vorhin an. Sie wollten wissen, wie lang ich hier schon wohne. Die Antwort lautet: seit zwanzig Jahren. Die eine Hälfte davon im Himmel, die andere in der Hölle.« Er legte eine Pause ein. »Die ersten zehn Jahre habe ich dank einer bemerkenswerten Frau in einer Welt voller Sonnenschein gelebt, die letzten zehn im Land der
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