Gute Nacht: Thriller (German Edition)
gelesen habe. Lassen Sie mich einfach kurz spekulieren. Ich wette, das Profil versucht zu erklären, dass der Mörder zugleich effizient und ineffizient, stabil und verrückt, atheistisch und bibelinspiriert ist. Na, wie bin ich?«
Trout ächzte ungeduldig. »Kein Kommentar.«
»Das Problem ist, Sie haben das Manifest des Mörders als authentischer Ausdruck seines Denkens gewertet – weil es zu Ihrem eigenen Denken gepasst hat. Es hat Ihre Vermutungen zu dem Fall bestätigt. Sie sind nie auf die Idee gekommen, dass das Manifest ein Täuschungsmanöver sein könnte, dass Sie hinters Licht geführt wurden. Der Gute Hirte hat Ihnen gesagt, dass Ihre Schlussfolgerungen stimmen. Und deswegen haben Sie ihm ganz einfach geglaubt.«
Mit schlecht gespielter Resignation schüttelte Trout den Kopf. »Ich fürchte, wir bewegen uns hier auf verschiedenen Planeten. Angesichts Ihrer beruflichen Vergangenheit hätte ich gedacht, dass wir auf der gleichen Seite ste-
hen.«
»Schön gesagt. Aber nicht besonders realitätsnah.«
Das Kopfschütteln ging weiter. »Ziel des FBI im Fall des Guten Hirten ist es, wie in jedem anderen Fall auch – und wie es im Übrigen bei allen Beamten in der Strafverfolgung sein sollte –, die Wahrheit aufzudecken. Wenn wir uns auf dieses Ethos unseres Berufsstands verständigen können, dann stehen wir auf der gleichen Seite.«
»Glauben Sie das wirklich?«
»Das ist die Grundlage unserer gesamten Tätigkeit.«
»Hören Sie, Trout, ich bin schon mindestens so lange dabei wie Sie, wahrscheinlich sogar länger. Sie reden hier mit einem Cop und nicht vor dem Rotary Club. Sicher, das Ziel besteht darin, die Wahrheit aufzudecken – außer es kommt ein anderes Ziel in die Quere. In den meisten Fällen dringen wir nie zur Wahrheit vor. Wenn wir Glück haben, kriegen wir einen zufriedenstellenden Abschluss. Oder eine glaubwürdige Auslegung. Einen Ansatz, um jemanden zu verurteilen. Sie wissen doch ganz genau, dass Polizeibehörden in der Realität schon von ihrem System her die Suche nach Wahrheit und Gerechtigkeit nicht belohnen. Belohnt werden zufriedenstellende Lösungen. Ein einzelner Cop trägt vielleicht in seinem Herzen den Wunsch, die Wahrheit herauszufinden. Aber belohnt wird er für die Klärung des Falls. Er muss dem Staatsanwalt einen Täter liefern, möglichst mit einer stimmigen Theorie zu Fakten und Motiven und am besten gleich mit einem unterschriebenen Geständnis – so sieht Polizeiarbeit in Wirklichkeit aus.«
Trout verdrehte die Augen und schaute auf die Uhr.
Gurney beugte sich vor. »Ich will darauf hinaus, dass Sie eine stichhaltige Theorie hatten. Und in gewisser Weise sogar ein unterschriebenes Geständnis – das Manifest. Das Haar in der Suppe ist nur, dass sich der Killer nicht fassen lässt. Aber egal. Sie haben Ihr Täterprofil entwickelt. Und seine ausführliche Absichtserklärung hatten Sie auch. Die sechs Morde haben genau zu dem gepasst, was Ihre Abteilung Verhaltensanalyse über den Guten Hirten wusste. Gute Arbeit, logische Schlussfolgerungen. Stimmig, professionell, belastbar.«
»Und was genau haben Sie dagegen einzuwenden?«
»Sofern Sie nicht über Beweise verfügen, die Sie nicht offengelegt haben, beruht Ihr gesamtes Wissen auf einer Fiktion. Übrigens hoffe ich, dass ich mich täusche. Sagen Sie mir, dass Sie Material in den Akten haben, von dem niemand weiß.«
»Sie drehen sich im Kreis, Gurney. Und ich habe keine Zeit mehr. Wenn es Ihnen also nichts ausmacht …«
»Stellen Sie sich einfach zwei Fragen, Trout. Erstens, welche andere Theorie zu dem Fall hätten Sie womöglich entwickelt, falls Sie das Manifest nie erhalten hätten? Zweitens, was ist, wenn jedes Wort in diesem kostbaren Dokument Quatsch ist?«
»Interessante Fragen, sicher. Aber bevor Sie fortfahren, darf ich Ihnen auch eine stellen.« Wieder stützten die Finger keilförmig aufgerichtet das Kinn. Die Pose eines Professors. »Da Sie keinerlei offizielle Befugnis haben, sich in diese Angelegenheit einzuschalten … Was bringen Ihnen all diese aggressiven Theorien außer einem Berg von Scherereien?«
Möglicherweise lag es an Trouts drohendem Blick. Oder an dem Grinsen in Dakers Gesicht, der am Türpfosten lehnte. Oder an dem aufreizenden Hinweis auf das Fehlen seiner Dienstmarke. Was es auch war, Gurney ließ sich zu einer Äußerung hinreißen, die er nicht geplant hatte.
»Vielleicht sehe ich mich gezwungen, ein Angebot anzunehmen, das ich bisher nicht ernsthaft in Erwägung
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