Gute Nacht: Thriller (German Edition)
Sonne geht unter, und wir schlafen. Die Sonne geht auf, und wir erwachen. Wir erwachen und genießen einen kurzen, blinden Augenblick lang die Vorstellung, ganz von Neuem zu beginnen. Bis sich unweigerlich irgendwann wieder die Realität durchsetzt.
Als er an diesem Morgen mit seinem Kaffee am Küchenfenster stand und nachdenklich hinaus auf die stoppelige Wiese schaute, brach die Wirklichkeit in Form einer dunklen Gestalt auf einem dunklen Motorrad über ihn herein, die reglos zwischen dem Weiher und den verbrannten Holzresten der Scheune verharrte.
Gurney stellte seinen Kaffee weg, schlüpfte in eine Jacke und ein Paar niedrige Stiefel und trat hinaus. Die Gestalt auf dem Motorrad rührte sich nicht. Die Luft roch eher nach Winter als nach Frühling. Vier Tage nach dem Brand lag noch immer ein Hauch von Asche in ihr.
Langsam stapfte Gurney den Pfad über die Wiese hinunter. Der Fahrer startete seine große, schlammverspritzte Motocrossmaschine und kroch in einem Tempo den Hang herauf, das nicht schneller war als Gurneys Schritte. Ungefähr in der Mitte des Feldes trafen sie sich. Erst als der Mann sein Visier hochklappte, erkannte Gurney die durchdringenden Augen Max Clinters.
»Sie hätten sich anmelden sollen«, begrüßte ihn Gurney ungerührt. »Ich hab heute Vormittag einen Termin. Fast hätten Sie mich verpasst.«
»Bis vor einer halben Stunde wusste ich noch gar nicht, dass ich herfahre.« Im Gegensatz zu Gurney klang Clinter ziemlich fahrig. »Hab einen Haufen zu tun, schwer zu entscheiden, was die richtige Reihenfolge ist. Dabei ist die richtige Reihenfolge so wichtig. Ihnen ist doch klar, dass sich die Sache zuspitzt?« Leise schnurrte der Motor der Maschine vor sich hin.
»Zumindest ist mir klar, dass der Gute Hirte wieder da ist oder dass uns das jemand vormacht.«
»Er ist bestimmt wieder da. Das spüre ich in den Knochen – genau in denen, die ich mir vor zehn Jahren gebrochen habe. Der Schweinehund ist auf jeden Fall wieder da.«
»Was kann ich für Sie tun, Max?«
»Ich bin gekommen, um Ihnen eine Frage zu stellen.« Seine Augen funkelten.
»Wenn Sie eine Nummer hinterlassen hätten, dann hätte ich zurückgerufen.«
»Ich hab es als Zeichen verstanden, dass Sie nicht rangegangen sind.«
»Ein Zeichen wofür?«
»Dass es immer besser ist, Fragen von Angesicht zu Angesicht zu stellen. Damit man dem Gegenüber in die Augen schauen kann. Also meine Frage: Auf welcher Seite stehen Sie bei dieser RAM -Scheiße?«
»Wie bitte?«
»Das Böse in der Welt ist auf dem Vormarsch, Mr. Gurney. Das Böse und sein Spiegel. Mord und die Medien. Ich muss wissen, wie Sie dazu stehen.«
»Sie fragen, wie ich die Berichterstattung über Gewalt finde? Wie finden Sie sie?«
Ein rohes Lachen brach aus Clinters Kehle. »Drama für Idioten! Inszeniert von Hyänen! Übertreibung, Müll und Lügen! Das soll ›Berichterstattung‹ sein, Mr. Gurney! Die Verherrlichung des Unwissens! Die profitgierige Erzeugung von Konflikten! Der Verkauf von Wut und Verbitterung als Unterhaltung! Und die schlimmsten sind die bei RAM News. Verbreiten Gift und Scheiße, damit Arschlöcher Gewinn machen können!« In Clinters Mundwinkel glänzten weiße Speichelreste.
»Sie sind anscheinend ebenfalls voller Wut«, bemerkte Gurney ruhig.
»Voller Wut? O ja! Voll davon, man könnte sogar sagen, verzehrt davon, getrieben davon. Aber ich verkaufe sie nicht. Ich bin kein Großmaul, das auf RAM News Wut verkauft. Meine Wut ist unverkäuflich.«
Der Motor der Maschine lief inzwischen etwas stotternd. Mit einem heftigen Reißen am Gas ließ Clinter ihn laut aufheulen.
»Sie sind also kein Verkäufer«, sagte Gurney, als das Donnern wieder abgeklungen war. »Nur was sind Sie dann, Max? Irgendwie kann ich mir keinen Reim auf Sie machen.«
»Ich bin, was dieser gemeine Scheißer aus mir gemacht hat. Der Zorn Gottes.«
»Wo ist der Humvee?«
»Komisch, dass Sie fragen.«
»Waren Sie gestern zufällig in der Gegend vom Cayuga Lake?«
Clinter starrte ihn scharf an. »Zufälligerweise ja.«
»Darf ich fragen, warum?«
Wieder ein taxierender Blick. »Ich hatte eine besondere Einladung.«
»Pardon?«
»Sein Eröffnungszug.«
»Kann Ihnen nicht ganz folgen.«
»Hab eine SMS vom Hirten gekriegt – eine Einladung, ihn auf der Straße zu treffen und zu beenden, was beim letzten Mal nicht beendet wurde. Dumm von mir, das für bare Münze zu nehmen. Hab mich gefragt, warum er nicht aufgetaucht ist, bin nicht draufgekommen, bis ich
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