Gute Nacht: Thriller (German Edition)
PTBS -Etikett um den Hals – was konnte er denn überhaupt tun?
Ihm fiel nichts ein.
Nichts außer einem irritierend banalen Aphorismus.
Man muss die Karten spielen, wie sie kommen.
Aber was für Trümpfe hatte er in der Hand?
Im Grunde war sein Blatt mies. Oder vielmehr, angesichts seiner äußerst bescheidenen Ressourcen, unspielbar.
Immerhin hatte er noch einen Joker in Reserve.
Einen Joker, der vielleicht etwas taugte, vielleicht jedoch auch nicht.
Hinter morgendlichem Dunst erhob sich allmählich die Sonne. Sie hing noch tief am Himmel, als das Festnetztelefon läutete. Gurney stand auf und trat ins Arbeitszimmer, um abzunehmen. Es war jemand aus der Klinik, der nach Madeleine fragte.
Gerade wollte er ihr den Hörer ins Schlafzimmer bringen, da tauchte sie im Pyjama in der Tür auf und streckte die Hand aus, als hätte sie mit dem Anruf gerechnet.
Sie warf einen Blick aufs Display und meldete sich in freundlich professionellem Ton, der dem schläfrigen Ausdruck in ihrem Gesicht widersprach. »Guten Morgen, hier Madeleine.«
Dann lauschte sie stumm irgendwelchen längeren Ausführungen. Gurney nutzte die Gelegenheit, um in die Küche zu gehen und frischen Kaffee aufzusetzen.
Erst gegen Ende des Telefonats hörte er noch einmal kurz ihre Stimme, verstand aber nicht genau, was sie sagte. Anscheinend hatte sie sich zu etwas bereit erklärt.
Kurz darauf erschien sie in der Küchentür und betrachtete ihn wieder mit ihrem sorgenvollen Blick. »Wie geht’s deiner Hand?«
Die anästhesierende Wirkung des Lidocains, das ihm vor den neun Stichen verabreicht worden war, hatte nachgelassen, und die untere Hälfte seiner Handfläche pulsierte.
»Einigermaßen. Was wollen sie jetzt schon wieder von dir?«
Sie ignorierte die Frage. »Du solltest sie hochhalten, wie der Arzt gesagt hat.«
»Okay.« Er hob die Hand ein paar Zentimeter über die Kücheninsel, wo er darauf wartete, dass der Kaffee kochte. »Hat sich schon wieder jemand umgebracht?« Er merkte selbst, dass sein Witz nicht besonders gelungen war.
»Carol Quilty hat gestern Abend gekündigt. Sie brauchen für heute eine Aushilfe.«
»Wann?«
»So bald wie möglich. Ich dusche mich, esse einen Toast, dann fahre ich. Kommst du hier allein zurecht?«
»Natürlich.«
Stirnrunzelnd deutete sie auf seine Hand. »Nicht so niedrig.«
Er brachte sie auf Augenhöhe.
Mit einem aufmunternden Zwinkern verschwand sie Richtung Dusche.
Zum vielleicht tausendsten Mal wunderte er sich über ihre natürliche Fröhlichkeit, ihre unerschütterliche Fähigkeit, die Realität zu akzeptieren, wie sie gerade war, und alles Erforderliche mit einer Haltung anzupacken, die weitaus positiver war als seine.
Sie sah dem Leben ins Auge und machte das Beste daraus.
Sie spielte die Karten, wie sie kamen.
Das erinnerte ihn wieder an seinen Joker.
Wenn er etwas damit anfangen wollte, musste er ihn bald einsetzen. Bevor das Spiel vorbei war.
Ihn überfiel das düstere Gefühl, dass dieser Joker vielleicht nicht den geringsten Wert hatte. Doch es gab nur eine Möglichkeit, das herauszufinden.
Diese Karte, von der jetzt alles abhing, war sein Zugang zu den versteckten Wanzen, die in Kims Apartment installiert worden waren. Vielleicht vom Guten Hirten, und wenn ja konnte es sein, dass er die Wohnung noch immer überwachte. Falls beide Annahmen zutrafen – was keineswegs gesagt war –, ließen sich diese Geräte als Kommunikationskanal nutzen. Als Möglichkeit, mit dem Killer zu reden und ihm eine Nachricht zu schicken.
Doch was für eine Nachricht sollte das sein?
Eine einfache Frage – mit unendlich vielen Antworten.
Und er musste die richtige finden.
Kurz nach Madeleines Aufbruch klingelte erneut das Telefon im Arbeitszimmer. Hardwicks krächzende Stimme meldete sich. »Schau in den Online-Archiven des Manchester Union Leader nach. Die haben 1991 eine Reihe über den White-Mountain-Würger gebracht. Da findest du bestimmt einen Haufen von dem Schrott, den du suchst. Ich muss pissen. Bis dann.«
Der Mann hatte eine einmalige Art, sich zu verabschieden.
Gurney setzte sich an den Computer und durchforstete eine Stunde lang die Online-Archive des Manchester Union Leader und anderer Zeitungen aus Neuengland, die ausführlich über die Verbrechen des Würgers berichtet hatten.
In zwei Monaten hatte es fünf Anschläge gegeben, immer tödlich. Alle Opfer waren weiblich und wurden mit weißen Seidentüchern erwürgt, die zusammengeknotet um ihren Hals hingen. Die
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