Gute Nacht: Thriller (German Edition)
Gemeinsamkeiten der Ermordeten waren bestenfalls oberflächlich. Drei von den Frauen waren in ihren Häusern, die sie allein bewohnten, getötet worden. Die zwei anderen arbeiteten bis spätabends in einer zu dieser Zeit unbelebten Gegend. Eine war auf dem unbeleuchteten Parkplatz hinter ihrem Bastelbedarfsladen umgebracht worden, die andere auf ganz ähnliche Weise hinter ihrem eigenen kleinen Blumengeschäft. Alle fünf Anschläge ereigneten sich in einem Fünfzehn-Kilometer-Radius um Hanover, dem Sitz des Dartmouth
College.
Bei Serienmorden dieser Art war oft ein sexuelles Motiv im Spiel, doch es gab keine Spuren von Vergewaltigung oder Missbrauch. Auch das »Opferprofil« fand Gurney reichlich merkwürdig. Im Grunde genommen existierte gar keines. Die einzige körperliche Gemeinsamkeit der Frauen war, dass sie alle relativ klein waren. Ansonsten bestand keinerlei Ähnlichkeit zwischen ihnen. Frisur und Kleidungsstil waren vollkommen verschieden. Auch die sozioökonomische Verteilung war seltsam: eine Dartmouth-Studentin (Larry Sternes damalige Freundin), zwei Ladeninhaberinnen, eine Teilzeitkantinenkraft an einer Grundschule und eine Psychiaterin. Das Alter reichte von einundzwanzig bis einundsiebzig. Die Studentin war blond und hellhäutig, die pensionierte Psychiaterin eine grauhaarige Afroamerikanerin. So eine Streuung war Gurney bei den Opfern eines Serienmörders selten begegnet. Es fiel schwer, von diesen Frauen auf die obsessive Fixierung zu schließen, die den Täter zu seinen Verbrechen getrieben hatte.
Während er noch über das Eigenartige dieses Falls nachgrübelte, hörte er oben die Dusche. Kurz darauf erschien Kim mit einem furchtbar angespannten Gesicht in der Tür zum Arbeitszimmer.
»Guten Morgen.« Gurney beendete seine Computersuche.
»Es tut mir wahnsinnig leid, dass ich dich da reingezogen habe.« Wie gestern schien sie den Tränen nah.
»In meinem Beruf war ich früher immer mit solchen Dingen beschäftigt.«
»Aber damals hat niemand deine Scheune niedergebrannt.«
»Es ist nicht gesichert, dass die Scheune irgendwas mit dem Fall zu tun hat. Das könnte auch irgendein …«
»O Gott«, unterbrach sie ihn, »was ist mit deiner Hand passiert?«
»Der Pfeil, den ich auf die Anrichte gelegt habe – letzte Nacht hab ich mich im Dunkeln damit geschnitten.«
»O Gott«, rief sie erneut und zuckte zusammen.
Kyle tauchte im Flur hinter ihr auf. »Morgen, Dad, wie geht …« Beim Anblick seines Verbands stockte er. »Was hast du denn da?«
»Nichts weiter. Sieht schlimmer aus, als es ist. Wollt ihr Frühstück?«
»Er hat sich an diesem fiesen Pfeil geschnitten«, erklärte Kim.
»Mann, das Ding ist scharf wie ein Rasiermesser«, sagte Kyle.
Gurney erhob sich vom Schreibtisch. »Kommt, wir machen Eier und Toast zum Kaffee.«
Er bemühte sich um einen normalen Ton. Doch als er sie mit einem aufmunternden Lächeln hinüber zum Küchentisch führte, nagte die Frage an ihm, ob er ihnen von dem letzten Mord und den GPS -Sendern erzählen sollte. Hatte er überhaupt ein Recht, ihnen das alles zu verschweigen? Und warum wollte er das eigentlich?
Zweifel an seinen Motiven waren schon immer sein Problem gewesen und hatten seinen ohnehin instabilen Seelenfrieden untergraben wie Termiten ein baufälliges Haus. Er zwang sich dazu, sich auf die banalen Frühstücksdetails zu konzentrieren. »Wie wär’s mit Orangensaft?«
Abgesehen von vereinzelten Bemerkungen wurde das Frühstück zu einer fast peinlich schweigsamen Angelegenheit. Unmittelbar nach dem Essen machte sich Kim ans Abräumen und Abspülen in dem leicht durchschaubaren Wunsch, sich mit irgendetwas zu beschäftigen. Kyle vertiefte sich in seine SMS und las jede anscheinend mindestens zweimal durch.
Gurneys Gedanken kehrten wieder zu der entscheidenden Frage zurück, wie er seinen Joker ausspielen sollte. Er hatte nur einen Versuch. Fast körperlich spürte er, wie die Zeit verrann.
Er malte sich ein Endspiel aus, in dem er dem Guten Hirten gegenübertreten konnte. Ein Endspiel, in dem sich alle Puzzleteilchen zusammenfügten. Ein Endspiel, das bewies, dass seine eigenwillige Auffassung des Falls das Produkt eines klaren Verstands war und keineswegs die Fantasie eines verkrachten Polizisten, der seine besten Tage längst hinter sich hatte.
Er hatte keine Zeit, an der Vernunft seines Ziels oder der Wahrscheinlichkeit seines Erfolgs zu zweifeln. Er musste sich jetzt voll darauf konzentrieren, wie er die Konfrontation herbeiführen
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