Gute Nacht: Thriller (German Edition)
Als er angezogen an der Kaffeemaschine in der Küche stand und sich seine erste lebenswichtige Tasse einschenkte, fühlte er sich ein wenig besser. Er beugte die Finger der rechten Hand und merkte, dass der Schmerz erträglich war. Er umfasste die Tasse. Obwohl er zusammenzuckte, kam er zu dem Schluss, dass er mit dem Schalten klarkommen würde, falls er fahren musste. Sicher nicht angenehm, aber zumindest war er nicht völlig hilflos.
Von Kim und Madeleine war nichts zu sehen. Durch ein offenes Fenster bei der Anrichte hörte er leise Stimmen. Er trug seine Tasse hinüber zum Frühstückstisch neben der Terrassentür und entdeckte die beiden hinter dem wuchernden Apfelbaum in dem kleinen gemähten Bereich der Wiese, den er und Madeleine ein wenig hochtrabend als »Rasen« bezeichneten.
Sie saßen auf Gartenstühlen. Madeleine trug eine ihrer farbenfrohen Jacken, und Kim steckte in etwas ganz Ähnlichem, offenbar von Madeleine geborgt. Sie hielten ihre Kaffeebecher mit beiden Händen, wie um die Finger daran zu wärmen. Die Lavendel-, Fuchsien-, Orange- und Limonentöne ihrer Jacken strahlten im blassen morgendlichen Sonnenlicht, das allmählich durch die Wolkendecke drang. Ihre Gesichter ließen darauf schließen, dass ihre Unterhaltung – ebenso wie ihre Kleidung – lebhafter war als Gurneys Stimmung.
Er spielte mit dem Gedanken, die Terrassentür zu öffnen, damit die Sonne die Kälte vertreiben konnte. Doch er wusste, dass ihn Madeleine sofort auffordern würde herauszukommen, weil es so ein herrlicher Morgen war und alles so wunderbar duftete. Und je mehr sie von der frischen Luft schwärmte, desto mehr würde er darauf bestehen, drinnen zu bleiben. Diesen rituellen Kampf trugen sie oft aus und folgten dabei praktisch einem festen Drehbuch. Doch sobald geklärt war, dass er keine Zeit zum Hinausgehen hatte, überlegte er es sich jedes Mal anders und freute sich dann unweigerlich über den schönen Tag, den er sich aus kindischem Trotz fast hätte entgehen lassen.
Im Augenblick hatte er aber keine Lust auf dieses Ritual. Also ließ er die Tür zu und beschloss, das Profil des Guten Hirten auszudrucken und sich bei einer zweiten Tasse Kaffee unvoreingenommen damit auseinanderzusetzen: offen für mögliche Wahrheiten statt argwöhnisch auf der Suche nach Unsinn.
Im Arbeitszimmer lud er Hardwicks E-Mails auf seinen PC, eine willkommene Verbesserung gegenüber dem winzigen Display seines Handys. Während die Seiten ausgedruckt wurden, öffnete er die erste der Vorfallsmeldungen, die er gestern nur überflogen hatte.
Er war nicht sicher, wonach er Ausschau hielt. Noch war er in dem Stadium, in dem er alles sichten und so viel wie möglich aufnehmen musste. Die Entscheidung, was wichtig war, die Suche nach Mustern – das kam erst später.
Bald wurde ihm klar, dass er es beim ersten Mal zu eilig gehabt hatte. Er musste die Sache langsamer angehen. Im Laufe der Jahre hatte er herausgefunden, dass einer der fatalsten Fehler eines Ermittlers der war, sich zu schnell auf ein mögliches Muster festzulegen. Denn wenn man einmal eines zu sehen glaubte, neigte man dazu, alle Daten auszublenden, die nicht dazu passten. Die natürliche Tendenz des Gehirns zur Musterbildung degradierte Punkte, die nicht zum erwünschten Bild beitrugen. Aufgrund der berufsbedingten Notwendigkeit, die Grundzüge einer Situation schnell zu erfassen, konnte dadurch bei einem Detective die Gefahr wachsen, voreilige Schlüsse zu ziehen.
Die Phase des Hinsehens, Zuhörens und Aufnehmens war von unschätzbarem Wert. Und dieser Phase genügend Raum zu geben war immer der beste Einstieg in eine Ermittlung.
Einstieg in eine Ermittlung?
Eine Ermittlung wozu? In wessen Auftrag? Mit welcher rechtlichen Befugnis? In einem potenziellen Konflikt mit Schiff und wem noch?
Er beschloss, sich die Sache leichter zu machen – oder zumindest die Terminologie zu entschärfen – und sich das Ganze einfach als private Recherche zu denken, als bescheidenen Versuch, Antworten auf einige Fragen zu finden. Fragen wie:
Wer steckte hinter den ursprünglichen »Streichen«, die Kim beunruhigt hatten?
Was entsprach eher der Wahrheit: Kims Beschreibung von Meese oder seine Beschreibung von ihr?
Wer hatte die hinterhältige Falle gestellt, die seinen Sturz verursacht hatte? Hatte der Anschlag ihm gegolten oder Kim?
Wenn das Flüstern real gewesen war, wer war der Flüsterer? Warum lauerte er unten im Keller? Wie und wann konnte er in das Haus eindringen, und auf
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