Gute Nacht: Thriller (German Edition)

Leitplanke gehabt, und auch heute hatte sie keine. Drei charakteristische, hohe Bäume wirkten praktisch unverändert. Sogar die Jahreszeit, beginnender Frühling, war identisch und verlieh den alten Fotos eine trügerische Aura von Aktualität.
    Anhand der Position der hohen Bäume und der Entfernungs- und Winkelangaben zu den Fotos konnte Gurney ziemlich genau lokalisieren, wo sich Sharon Stones Limousine zum Zeitpunkt des Anschlags befunden hatte.
    Er fuhr zurück zur Abzweigung der Verbindungsstraße zum Highway. Von dort machte er sich wieder in entgegengesetzte Richtung auf zum Tatort, weiter durch drei Kilometer Sumpf und Moorland, vorbei am Dead Dog Lake, durch das Postkartendorf Barkham Dell und noch einen Kilometer bis zur Einmündung der Long Swamp Road in eine viel befahrene Landstraße.
    Dann fuhr er zurück zum Ausgangspunkt und wiederholte das Ganze noch einmal – nur dass er sich diesmal in den Guten Hirten hineinversetzte. Zuerst fand er unweit der Verbindungsstraße zum Highway eine unauffällige Parkmöglichkeit – ein idealer Ort, um auf vorbeikommende Mercedes-Limousinen zu lauern, die bei den Wochenendgästen von Barkham Dell sicher zu den beliebteren Fahrzeugen zählten.
    Dann startete er den Motor, um einem imaginären schwarzen Mercedes zum Beginn der langen Kurve zu folgen, beschleunigte beim Wechsel auf die linke Spur, ließ das Beifahrerfenster hinunter und hob ungefähr an der in der Tatrekonstruktion genannten Position den rechten Arm, um den Schuss auf den Fahrer nachzustellen.
    »Bamm!«, rief Gurney aus vollem Hals, obwohl er wusste, dass er damit nicht einmal zehn Prozent der Lautstärke erreichte, die durch die aus dem 0.50-Kaliber-Monster abgefeuerte Kugel entstanden war. Noch während er den Schuss mimte, trat er gleichzeitig voll auf die Bremse und malte sich aus, wie der Wagen des Opfers aus der Kurve herausgetragen wurde und vielleicht hundert Meter weiter vorn ins Moor schlitterte. Er tat, als würde er die Pistole auf den Sitz legen und eine kleine Tierfigur aus der Hemdtasche ziehen, um sie auf den Seitenstreifen unfern der Stelle zu werfen, wo sich der Phantom-Mercedes zwischen dem braunen Schilf des Vorjahrs in den Morast gebohrt hatte.
    Nach seinem Fantasieanschlag fuhr er weiter nach Barkham Dell. Unterwegs überlegte er, wie man sich einer Desert Eagle entledigen konnte. Drei Autos passierten ihn in entgegengesetzter Richtung. Eins davon war zufällig ein schwarzer Mercedes, und ihm lief ein eiskalter Schauer über den Rücken.
    An der Ampel im Dorf wendete er, um das Ganze noch einmal durchzuexerzieren. Doch als er sich dem Dead Dog Lake näherte und abwägte, ob sich der See für die Entsorgung einer Pistole eignete, klingelte sein Handy. Das Display zeigte seine Festnetznummer.
    »Madeleine?«
    »Wo bist du?«
    »Auf einer Nebenstraße in der Nähe von Barkham Dell. Warum?«
    »Warum?«
    Er zögerte. »Was ist denn los?«
    »Wie spät ist es?« Ihr Ton blieb bestürzend ruhig.
    »Wie spät? Ich weiß nicht … Ach Gott … Jetzt fällt’s mir ein. Ich hab’s vergessen.«
    Die Uhr auf dem Armaturenbrett zeigte Viertel nach drei. Er hatte versprochen, um drei zu Hause zu sein. Spätestens um drei.
    »Du hast es vergessen?«
    »Tut mir leid.«
    »Das ist alles? Du hast es einfach vergessen?« Echter Zorn stahl sich in ihre Stimme.
    »Es tut mir leid. Ich kann nicht beeinflussen, was ich vergesse. Schließlich mach ich das nicht absichtlich.«
    »Doch, das tust du.«
    »Wie soll das gehen, verdammt? Vergessen ist vergessen. Das hat nichts mit Absicht zu tun.«
    »Wenn dir was wichtig ist, erinnerst du dich dran. Wenn dir was nicht wichtig ist, vergisst du es.«
    »So kann man das nicht …«
    »Doch. Du schiebst es immer auf dein Gedächtnis. Aber mit deinem Gedächtnis hat das nichts zu tun. Gerichtstermine hast du nie vergessen. Oder Treffen mit dem Bezirksstaatsanwalt. Du hast kein Gedächtnis problem, David, du hast ein Prioritäten problem.«
    »Hör zu, es tut mir leid.«
    »Na schön. Wann kommst du nach Hause?«
    »Bin schon unterwegs. In fünfunddreißig, vierzig Minuten.«
    »Bis vier bist du also hier?«
    »Bis vier auf jeden Fall. Vielleicht schon früher.«
    »Gut. Vier Uhr. Nur eine Stunde Verspätung. Bis gleich.«
    Sie legte auf.
    Um 15.52 Uhr erreichte er die ruhige Straße, die sich am Bachufer über eine Anhöhe hinauf zu ihrem Farmhaus schlängelte. Nach eineinhalb Kilometern hielt er auf einem grasbewachsenen Fleck vor einer selten benutzen