Gute Nacht: Thriller (German Edition)
rasch in einem Gebäude ausbreiten.« Er schielte zu seinem Vater. »Stimmt, oder?«
»Genau«, knurrte Gurney. Er war noch immer mit Kims Spekulation beschäftigt, dass der Treppensaboteur und der Scheunenverbrenner ein und dieselbe Person sein könnten. Jetzt wandte er sich an sie: »Warum hast du das gesagt?«
»Was?«
»Dass es derselbe Täter sein könnte – hier und in deinem Keller.«
»Ist mir einfach so durch den Kopf geschossen.«
Nach kurzer Überlegung kam er unweigerlich auf eine Frage, die er ihr vorgestern nicht hatte stellen wollen. Seine Stimme wurde leise. »Hör mal, sagt dir der Spruch Lass den Teufel schlafen irgendwas?«
Vor Angst riss sie die Augen auf und wich einen halben Schritt zurück. »O Gott! Wie hast du davon erfahren?«
23
Verdacht
Verblüfft von ihrer Reaktion zögerte Gurney.
»Robby!«, rief sie. »Verdammt, Robby hat dir davon erzählt, richtig? Aber wenn er es dir erzählt hat, warum fragst du mich dann, ob es mir was sagt?«
»Ich möchte es gern von dir hören.«
»Ich kapier überhaupt nichts mehr.«
»Vor zwei Nächten hab ich in deinem Keller etwas gehört.«
Kims Miene erstarrte. »Was?«
»Eine Stimme. Eigentlich mehr ein Flüstern.«
Alle Farbe wich ihr aus dem Gesicht. »Was denn für ein Flüstern?«
»Kein besonders freundliches.«
»O mein Gott!« Sie schluckte. »Dann war also jemand im Keller? Ein Mann oder eine Frau?«
»Da möchte ich mich nicht festlegen. Vermutlich ein Mann. Es war dunkel, ich konnte nichts sehen.«
»Das gibt’s doch nicht! Was hat er gesagt?«
» Lass den Teufel schlafen .«
»O mein Gott!« Ihr erschrockener Blick huschte wie über vermintes Gelände.
»Und was hat es damit auf sich?«
»Das ist … das Ende einer Geschichte, die mir mein Vater erzählt hat, als ich klein war. Die furchtbarste Geschichte, die ich je gehört habe.« Sie kratzte mit dem Mittelfinger über den Daumen, riss kleine Stückchen von der Nagelhaut ab.
»Setz dich erst mal hin und entspann dich«, forderte er sie auf. »Alles wird gut.«
» Entspannen? «
Sanft lächelte er sie an. »Kannst du uns die Geschichte erzählen?«
Sie klammerte sich an der Rückenlehne des nächsten Stuhls fest. Dann schloss sie die Augen und atmete mehrmals tief durch.
Nach ungefähr einer Minute öffnete sie die Lider und begann mit zittriger Stimme. »Die Geschichte … war eigentlich ziemlich kurz und einfach, aber als ich klein war, kam sie mir … riesig vor. Total unheimlich. Eine Welt, in die ich hineingerissen wurde wie in einen Albtraum. Mein Vater meinte, es ist ein Märchen. Doch erzählt hat er es wie was Reales.« Sie schluckte. »Es gab einen König, und er erließ ein Gesetz, dass einmal im Jahr die unartigen Kinder ins Schloss gebracht werden mussten – alle Kinder, die was angestellt, die gelogen oder nicht gehorcht hatten. Kinder, die so böse waren, dass ihre Eltern sie nicht mehr haben wollten. Der König hielt sie ein ganzes Jahr im Schloss gefangen. Sie bekamen gutes Essen, Kleider und bequeme Betten, und sie konnten tun, was sie wollten. Mit einer Aus-
nahme. Im tiefsten, dunkelsten Teil des Schlosskellers war
ein Raum, von dem sie sich fernhalten mussten. Eine kleine, kalte Kammer, in der es nur einen einzigen Gegenstand gab. Eine lange, modrige Holztruhe. In Wirklichkeit war es ein alter, verrottender Sarg. Der König erzählte den Kindern, dass darin ein Teufel schlief – der böseste Teufel auf der ganzen Welt. Jeden Abend nach dem Schlafengehen wanderte der König von Bett zu Bett und flüsterte jedem Kind ins Ohr: ›Geh nicht hinunter in die dunkle Kammer. Halt dich fern von dem verrottenden Sarg. Wenn du am Leben bleiben willst, lass den Teufel schlafen. ‹ Nicht alle Kinder waren so klug, dem König zu gehorchen. Einige dachten, dass er den Teufel in der Truhe erfunden hatte, weil er dort seine Schätze versteckt hatte. Hin und wieder stand ein Kind in der Nacht auf und schlich sich im Dunkeln hinunter, um die modrige, sargähnliche Truhe zu öffnen. Dann gellte ein durchdringender Schrei durchs Schloss wie der Schrei eines Tieres, das im Maul eines Wolfs steckte. Und das Kind wurde nie wieder gesehen.«
Am Tisch trat beklommene Stille ein.
Kyle fand als Erster wieder Worte. »Heilige Scheiße! Und so was hat dir dein Vater früher als Gutenachtgeschichte erzählt?«
»Oft hat er sie nicht erzählt, aber wenn, dann hat sie mir eine Wahnsinnsangst eingejagt.« Kim blickte Gurney an. »Als du vorhin diesen Spruch zitiert
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