Guten Morgen, Tel Aviv
in Jerusalem geplanten »Tram-Fernsehbildschirme« sind. Am liebsten würden die meisten Orthodoxen eine abgeschottete Welt schaffen, die dem osteuropäischen Schtetl der letzten Jahrhunderte ähnelt. Das tun sie in anderen Ländern auch, ohne jedoch von ihren Mitbürgern einen gleichen Lebensstil zu erwarten. An Israel aber haben sie einen anderen Anspruch. Israel ist der jüdische Staat (auch wenn sie ihn nicht anerkennen). Und die Orthodoxen nennen sich selbst gerne die jüdischsten aller Juden. Nicht umsonst hat Ben Gurion bei der Staatsgründung ein Gesetz erlassen, das es den orthodoxen Juden erlaubt, sich dem Thorastudium zu widmen und nicht arbeiten zu müssen. Das war vor allem eine Reaktion auf den Zweiten Weltkrieg, in dem viele orthodoxe Gemeinden ausgelöscht wurden. Der jüdische Staat sollte eine jüdisch-orthodoxe Basis haben. Nur, dass es damals ungefähr 600 orthodoxe Männer in Israel gab. Heute sind es Hunderttausende. Sie sind das Gegengewicht in einem Staat, der modern und aufgeschlossen sein will.
Modern und aufgeschlossen, wie auch ich es bin, fühlte ich mich etwas allein, als ich da so verirrt an einer Ecke im orthodoxen Jerusalem herumstand. Nach einer gefühlten Unendlichkeit entdeckte ich schließlich doch noch eine orthodoxe Frau. Jüdisch-orthodoxe Frauen kann man daran erkennen, dass sie entweder ein Tuch oder eine Perücke auf dem Kopf tragen, damit man ihr Haar nicht sehen kann. Ich stürmte auf die etwa 20-jährige Frau mit Kinderwagen und Kylie-Minogue-Zweithaar zu. Sie sprach nur Jiddisch. Ach ja, manche Orthodoxe sprechen kein Hebräisch, weil das die Sprache der Thora ist und somit als heilig gilt. Ich versuchte es auf Deutsch. Da antwortete sie mir in breitem schweizerischem Dialekt. Sie kam aus Zürich. Wir sprachen plötzlich in unserer gemeinsamen Muttersprache. Es war fast wie zu Hause.
Als ich schließlich, auch mit ihrer Hilfe, zurück in Tel Aviv war und an einer Ampel wartete, sauste ein junger Orthodoxer mit Inlineskates an mir vorbei. Ich sah ihn von da an ständig. Manchmal hatte er ein Handy am Ohr, manchmal rollte er einen Kinderwagen vor sich her. Aber immer mit Inlineskates. Modern und aufgeschlossen geradezu. Vielleicht gibt es doch noch Hoffnung.
Raum
Letzte Woche warf sich mir ein 150-Kilo-Mann auf den Fuß. Das ist in Israel keine Seltenheit. Wenn ich mich mit meinem Lebensgeliebten zeitgleich in unserer Wohnung aufhalte, habe ich manchmal das Gefühl, wir leben in einem Schuhkarton. Ständig steht er auf meinen Füßen. Läuft in mich hinein. Oder rammt mich. Es ist ein wenig, als wären wir auf einem nicht enden wollenden Konzert der »Sex Pistols«. Ich habe diese Poger schon immer gehasst. Die Krönung ist aber, dass der heimische Schubser nach jedem Aufprall mir die Schuld gibt. Immer stünde ich im Weg, sagt er.
Seit heute weiß ich, dass das nicht stimmt. Es liegt nicht an mir. Es ist etwas Israelisches.
Meine norditalienische Freundin B., verheiratet mit einem Israeli, weiß nämlich Ähnliches zu berichten. Ihr Mann G. knallt ihr Einkaufswagen in die Hacken, stolpert beim Gehen über sie oder prallt auf breiter Fläche frontal mit ihr zusammen. Ich kenne ihn. Er ist kein Drängler, sondern ein ganz sanftmütiger, bedachter Mensch.
Die Erklärung für all die Rempelei ist so simpel wie erschreckend: Israelis kennen keinen persönlichen Raum. Dieses individuelle, ganz eigene Territorium, in das bitte niemand eindringen soll – eine Unbekannte. Das Konzept, einen Sicherheitsabstand zu anderen Menschen zu wahren, kommt in der israelischen Kultur einfach nicht vor. Hier mag man Körperkontakt. Ob vor der Supermarktkasse, in der Schlange zur Toilette oder am Geldautomaten, überall spüre ich den Atem meines Hintermanns. Ich führe ein Leben wie im Hollywood-Psychothriller. Ganz à la »Ich weiß, was du letzten Sommer gemacht hast. Ich stand nur zwei Zentimeter hinter dir.«
In Europa gibt es ja kaum noch spürbare Grenzen. Und doch weiß jeder ganz genau, wo die eigenen sind. Man hält Abstand, gibt sich unverbindlich und stört einander nicht. Eltern klopfen an Türen, bevor sie Räume betreten, Kinder lernen früh, dass sie nicht jedem einfach auf den Arm springen können. Und Deutsche umarmen einander sowieso erst, nachdem sie sich jahrelang kennen. Hier ist das anders. So sehr das kleine Land von strikten, teils unübertretbaren Grenzen eingeschlossen ist, so wenig spielen Grenzen aller Art im Alltag eine Rolle. Menschen erzählen mir ohne
Weitere Kostenlose Bücher