Guten Morgen, Tel Aviv
Publikum saßen fast nur ältere deutsche Juden, die traurig dreinschauten. Am Ende spielte eine Geige die israelische Hymne »haTikwa«. Die alten Herrschaften schälten sich schwerfällig aus ihren Sitzen und sangen voller Inbrunst von der Hoffnung, die sie nicht verloren hatten. Dabei lächelten sie. Ich heulte natürlich.
Israel ist einfach außerordentlich emotional. In jeder Hinsicht. Es gibt so viel Hass, der mit dem Land verbunden ist, und gleichzeitig so viel Hingabe. Auch Israelis sind dementsprechend affektiv. Sie sind nicht immer fair, denn hier gibt es keinen guten Mittelweg. Entweder oder, lautet das Motto. Gehen oder bleiben. Sein oder Nichtsein. Ich finde, das muss man einfach wissen, wenn man sich über das Land und seine Leute eine Meinung bilden will. Man muss einfach wissen, dass Juden nicht ohne Grund ihren eigenen Staat mit solcher Macht schützen. Selbst die Leute, die denken, dass sie das wissen, sollten es wissen!
Und trotz allem können sich Israelis immer noch nicht sicher fühlen. Der Kampf ist immer noch nicht vorbei. Dabei würden viele gerne einfach nur mal ankommen. Leben statt überleben. Deswegen gibt es hier Go-go-Tänzerinnen auf Hochzeiten. Es gibt einen alltäglichen, weitverbreiteten Cannabiskonsum, den ich so noch nirgendwo in Europa gesehen habe. Und Partys auch im Krieg. Israelis wagen alles. Sie wollen es wissen, bevor es jederzeit vorbei sein könnte. In Deutschland würde man das als pathologischen Wahnsinn bezeichnen, Israelis nennen es Hoffnung to go-go.
IS-REAL
Nicht umsonst können Buchstabenverdreher aus Israel ganz schnell Isreal machen. Israelis mögen es real. Sie tun nicht so als ob, sie sind einfach. Im Moment guckt gut das halbe Volk mittwoch- und samstagabends »Big Brother«. Was in Deutschland schon seit 2003 eigentlich niemanden mehr interessiert, ist im Heiligen Land ein unglaublicher Quotenerfolg. Reality- TV ist megabeliebt, würde Dieter Bohlen sagen. Weitere Formate wie »Ha Jaffa we ha Chnun« (Die Schöne und der Streber) und »Be karov ahava« (Nächstes Mal Liebe) laufen bedeutend erfolgreicher als alle Reality-Shows in Deutschland zusammen (das neueste Dschungel-Geätze mal ausgenommen). Dazu zeigen die israelischen Fernsehsender nonstop begleitende Sendungen, in denen das Verhalten der Teilnehmer diskutiert und interpretiert wird. Man wird also auf allen Kanälen mit dem Echtheitswahnsinn beschallt.
Und so kommt es, dass auch ich mit meinen israelischen Freunden neuerdings über Hinz und Kunz und ihren Alltag im TV sprechen soll. Leider liegt mir Realitätsfernsehen nur in Form von Dokumentationen. Ernst zu nehmende Beiträge über wirklich interessante Menschen. Ich will hier gar nicht auf den Putz hauen, ich mag Trash- TV . Weihnachten gucke ich immer das »Traumschiff«. Und selbst in Israel weiß ich ungefähr, was in sämtlichen deutschen Soaps gerade vor sich geht. Trotzdem habe ich mich mit meinen deutschen Freunden noch nie über exhibitionistische, aufmerksamkeitsbedürftige Kandidaten in Containern, Dschungelcamps oder auf Bauernhöfen unterhalten. Außer das eine Mal, als Bauer Josef und Thailänderin Narumol aufeinandertrafen. Aber das hatte ja auch Dokumentationswert.
Seit kurzer Zeit komme ich hier in Israel aber wirklich nicht mehr drum herum. Meine Freundin M. ist eine der Damen, die in »Be karov ahava« die große Liebe suchen. Als sie ihrer Mutter letzten Sonntag dramatisch beichtete, dass sie mit 14 Jahren verschiedenen Männern in einer Art Orgie oral zu Diensten war, musste auch ich dem Realitätsfernsehen ins Auge sehen. Freundin M. wurde daraufhin nämlich von allen Seiten des Freundeskreises harsch für ihren Seelenstriptease attackiert, und auch ich sollte nun Position beziehen. Stattdessen versuchte ich herauszufinden, warum Israelis so verrückt nach diesen Real-Shows sind.
Die Antwort, die mir Freundin S. (Zuschauerin aller Formate) gab, war simpel und einleuchtend. »Wir Israelis«, sagte sie mir, »mögen das Echte. Das Wirkliche. Wir hassen es, wenn Leute sich verstellen. Wenn Menschen vorgeben, etwas anderes zu sein, als sie wirklich sind. Wir lassen uns nicht gerne etwas vormachen.« Das sei im Übrigen auch der Grund dafür, erklärte S. weiter, dass Israelis keine Anzüge tragen. Sie verkleiden sich nicht. Sie legen keinen Wert auf den schönen Schein. Bei Israelis muss alles echt sein, auch wenn’s wehtut. Freundin S. hat mir mit dieser haarscharfen Analyse mal wieder die Augen geöffnet. Ich hatte mich
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