Guten Morgen, Tel Aviv
Grenzerfahrungen umfassen Ausflüge in den wilden Amazonas. Wo dann in Zelten zwischen lebensgefährlichen Schlangen und Insekten geschlafen wird. Oder das Töten von Tieren zum eigenen Überleben. Oder Bungeesprünge von alten Brücken. Oder das Spiel mit Krokodilen und anderem gefährlichen Getier. In jedem Fall das Bewegen im Extremen. Alles muss erlebt werden, bevor man wieder zurück an den Konfliktherd muss. Die ungewöhnlichere Grenzerfahrung ist das Kennenlernen von nicht jüdischen Frauen. Manchmal wird dann daraus sogar etwas Ernstes, eine Psychose mit Realitätsverlust beispielsweise. In jedem Fall besteht der Sprachkurs für Hebräisch-Anfänger in Tel Aviv zu 80 Prozent aus Nichtjüdinnen, die für israelische Männer ins Land gekommen sind. Die Französinnen, Holländerinnen, Deutschen, Südamerikanerinnen, Italienerinnen und Schwedinnen trafen ihre Israelis in Brasilien, Indien, Thailand, Australien, Chile und, und, und.
Das sollte aber nicht darüber hinwegtäuschen, dass die berucksackten Israelis bei vielen anderen Touristen und Einheimischen sehr unbeliebt sein können. Sie seien laut, unfreundlich und arrogant. Würden nur mit ihresgleichen abhängen und behandelten die Einheimischen herablassend. Sie benähmen sich in den Ländern wie Kolonialherren. So lauten die Vorwürfe meist. Ich habe keinerlei Erfahrungen dieser Art gemacht.
Alle Israelis, die ich in Indien kennengelernt habe, waren sehr nett und aufgeschlossen. Sie waren hilfsbereit und lustig. Natürlich wurde es dabei auch mal lauter, so ist das, wenn man viel lacht. Sie haben sich den ganzen falschen Schmu von wegen »Ich will hier die Kultur der Einheimischen kennenlernen, aber möglichst nicht mehr als zwei Euro pro Nacht für mein Zimmer zahlen«, der oft an anderen Backpackern nervt, einfach gespart. Stattdessen hatten sie einfach Spaß und standen dazu. Sie versuchen nicht, ihrer Billig-Rucksack-Tour etwas politisch Korrektes aufzuzwängen.
Aber dann wiederum bin ich wahrscheinlich keine neutrale Beobachterin dieser Angelegenheit. Immerhin habe ich mich in Indien in meinen Israeli verliebt. Meine eigene persönliche Grenzerfahrung. Damit kann ich voller Stolz sagen, dass auch ich einen Hatiul hagadol absolviert habe. Der begann allerdings erst nach der Reise nach Indien und mit dem Umzug ins Heilige Land. Erste Anzeichen einer Psychose sind bereits zu beobachten. Aber das wissen Sie sicherlich besser als ich.
Kleine Freiheit
Vor einigen Jahren saß ich mit meinem wunderbaren Lebensgefährten (er war das erste Mal in Deutschland zu Besuch) in der S9 Richtung Berlin-Schönefeld. Die S-Bahn ratterte durch den Plänterwald und eine riesige Kleingartenanlage. Wir waren auf ehemaligem DDR -Gebiet. Man schätzt, dass es in der DDR etwa 3,4 Millionen Datschen, so nennen Ossis und Russen Gärten mit kleinen Häuschen, gab – die weltweit höchste Dichte an Gartengrundstücken. Mein Freund schaute interessiert aus dem Fenster auf die Minihäuser, die von den oben gelegenen Gleisen aussahen wie Hütten oder Schuppen, drehte sich zu mir und sagte: »Ach. Hier wohnen also die armen Leute?«
Ich schnappte nach Luft. Natürlich war ich selbst als Plattenbau-Ossi-Kleinkind in einer solchen Anlage groß geworden. Unser Garten war in Bützow, und ich habe ihn sehr geliebt. Die meisten meiner Kindheitsfotos bis circa sieben Jahre (dann kam die Wende auch bei uns an) wurden in diesem Garten aufgenommen. Schon mein Kinderwagen stand vor der Datsche unter dem Nussbaum. Es gab einen See mit Wasserratten und viele andere Gärten, aus denen man Blumen und Obst klauen konnte. Kinder gab es nicht so viele, schon damals befand sich Deutschland wohl auf dem demografischen Abstieg.
In Israel gibt es viele Kinder. Dafür keine Gärten. Wenn ich an Kinder denke, dann stelle ich mir vor, wie sie in einem Garten spielen. Die meisten Häuser jedoch, in denen ich in Israel zu Besuch war, haben allenfalls eine Grünfläche vor dem Eingang. Und selbst die sieht meistens unbenutzt aus. Sowieso haben Israelis ein komisches Verhältnis zum »Draußen«. Ich reiße immer alle Fenster auf und brauche viel Licht in der Wohnung. Wenn ich mich hier in Tel Aviv jedoch so umschaue, bin ich die Ausnahme. Die Israelis haben immer ihre Rollläden runter. Keine kleinen Rollos, sondern stabile Kunststoffteile außen am Fenster, die kaum Licht noch Luft durchlassen.
Bis vor Kurzem hatten meine Eltern nicht einmal im Badezimmer ein Rollo. Obwohl Nachbarn durch das große
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