Gutgeschriebene Verluste - Roman mémoire
sie, die große Zeit.
Dafür sind mehr als zwanzig Jahre später die Rechnungen kleiner, hatte Leiser kürzlich beim Bezahlen gesagt.
Kaffee und Kuchen erzeugten heute seinen Nachmittagsrausch – da blieb die Zeche klein, versteht sich.
E ine Frau, die gegen Mitternacht im Café in den Notizen ihres Terminkalenders blättert, mit deutlich gespielter Konzentration etwas unterstreicht, gelegentlich innehält und kurze Kontrollblicke in den fast leeren Raum schickt – diese anscheinend rotblonde, hier unbekannte Frau von Mitte, Ende Vierzig mußte die Aufmerksamkeit eines Tresenlesers wecken, der noch über den Rand der Zeitungsseite schauen konnte.
Lag erst einige Wochen zurück, der Beginn der Geschichte mit Ella.
Mehrere Abende hatte sie in der gleichen Weise im Café Fler verbracht, dabei stets den Mantel anbehalten … im Gestus einer Vielbeschäftigten wie in Erwartung eines Termins, der noch nicht in ihrem Kalender steht. Der Instinkt, Bastard aus Hoffnung und Erfahrung, sagte mir, kuck ruhig zu ihr rüber, beobachte die Entwicklung. Ein einfacher Blick war das Natürlichste, was man einer Frau jederzeit schenken konnte.
Erinnerte sie mich nicht von Anfang an an jemanden? Gleich zwei fremde Frauen hatten mich in den vorangegangenen Tagen mit ihrem Lächeln auf offener Straße aufgeschreckt – ein schlicht ermutigendes en passant und ein geradezu segnendes Frühlingslächeln einer schwarzen, voodoo-priesterlichen Brasilianerin aus der Nachbarschaft, die vor ihrem chaotischen Zeitungsladen saß und mir völlig überraschend zum allerersten Mal zulächelte. Vielleicht gab es doch so etwas wie ein unbewußt wirkendes, erotisches Vorwarnsystem. Als ein weiteres, womöglich richtungweisendes Zeichen lief am Abend vor dem Kennenlernen im Fernsehen Fellinis »Armarcord«, dessen wiedergesehene Lieblingsszenen ich später im Café meinem Tresennachbarn Paul schilderte. Er, jünger als der über dreißig Jahre alte Film, kannte Fellini nicht – ein Erotomane wie du, erklärte ich ihm mit ironischem Grinsen, weil er die den Älteren wichtigen Künstler grundsätzlich ablehnte. Ein knabenhaft zart gebauter, kneipenschlauer Junge, der durch zwei, drei Cuba Libre an Größe und Darstellungsenergie gewann und zu dem Zeitpunkt als der sexuell eindeutig agilste Lokalgast galt. Ihm gefielen die geschilderten Szenen aus dem italienischen Kleinstadtbordell, auch die Verführung des noch unschuldigen, jugendlichen Helden durch die großbrüstige Tabakhändlerin – ein Jungstraum beginnt, wenn sie hinter ihm die blecherne Jalousie des Ladens runterrattern läßt, ein musikalisches Scheppern vor der Lust. Vor allem aber gefiel ihm jener Part des Films, in dem des Buben geisteskranker Onkel beim Sonntagsbesuch der Familie in der Klapsmühle auf die Spitze eines Baumes flüchtet und nach Jahrzehnten des Schweigens für alle überraschend in die Landschaft schreit »Ich will eine Frau!« – ein verständlicher Wunsch nach der ewig langen Einsamkeit im Irrenhaus, »Ich will eine Frau!« Mit den Intervallen einer Krähe ruft Fellinis Onkel den Satz stundenlang vom Baum über das Feld, ohne daß ihn irgendwer von dort herunterholen konnte. Paul verstand, warum ich das erzählte. Auf der Straße spielten wir »Armacord« aus dem Stand nach, indem wir diesen Satz jaulend, schluchzend und markerschütternd in die Nacht hinausschrien, uns gegenseitig überbietend und auch im Duett, »Ich will eine Frau!« Paul, der Selbstversorger mit rund 250 weiblichen Telefonnummern im Handyspeicher, brauchte solche Beschwörungen nicht. Er tat’s für mich.
Anderntags kam heraus, daß die Frau mit dem Terminkalender auch seinem selektiven Auge nicht entgangen war. Da bei ihm zwischen erstem Blick und erfolgreicher Direktansprache meist nur Minuten lagen, konnte er sie und mich kurz miteinander bekannt machen – eine Situation, die sich nur vierundzwanzig Stunden nach dem Sehnsuchtsschrei als Antwort aus der Tiefe dieses esoterisch eingestimmten Stadtteils deuten ließ, als Zeichen, erhört worden zu sein. Das wäre dann recht schnell gegangen, zu schnell vielleicht für einen seit drei Jahren alles Weibliche entbehrenden Langzeitsingle – aber Frauen klopfen nicht an, wenn sie in unser Restleben eintreten, dachte ich, sie stehen plötzlich da, allein oder ins Gespräch mit anderen vertieft, eine Hand baumelt frei, la donna e mobile. Genau betrachtet, treten sie gar nicht in ein Leben, sondern in ein Büro, eine
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