Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Gutgeschriebene Verluste - Roman mémoire

Gutgeschriebene Verluste - Roman mémoire

Titel: Gutgeschriebene Verluste - Roman mémoire Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Suhrkamp-Verlag <Berlin>
Vom Netzwerk:
mich dahin gebracht, alle möglichen Dinge mit ihr gemeinsam zu machen, zusammen zu essen, zu reisen, wichtige Anlässe wahrzunehmen. Auf Ausflügen wurde ich von ihr aus Plastikdosen gefüttert, mit den zu Hause vorbereiteten Sächelchen, obwohl es mir auf Reisen stets lieber war, die Strenge der on-the-road-Askese rebellischer Zeiten noch einmal zu genießen und nach stoisch halbe Tage durchgehaltenen Entbehrungen nüchtern ans Ziel zu kommen, ohne jedes, das erhebende Gefühl nur banalisierendes Geknister und Geknabber. Immer wieder hatte ich mitgegessen, wenn die familiären Freßpakete im Auto und Hotel ausgepackt wurden – das jederzeit gemeinsam zu veranstaltende Essen war eine von Ellas Kernforderungen, während ich aus verschiedenen Gründen das Alleinessen vorzog. Im Grunde wünschte sie ein generell gemeinsames Handeln und Machen, ein unentwegt ausgesprochener Wunsch, der sich zunehmend zum Anspruch auf ein totales Zusammensein steigerte. Ihre Vorstellungen hatte ich mit dem Paarlaufen verglichen, jener symbolträchtigen Eiskunstlaufvariante, wo zwei durchaus zu Alleingängen fähige Menschen komplizierte, selbstgestellte Aufgaben auf öffentlichem Eis möglichst elegant und unter Vorspiegelung größter Leichtigkeit gemeinsam lösen müssen – eine sportlich dargestellte Zweisamkeit, deren Harmonien und Stürze ein kleinbürgerliches Publikum jeden Winter aufs neue ergreifen.
     
    So weit hatte sie mich inzwischen – häufig genug in der Rolle eines sich selbst ignorierenden Allesmitmachers. Und demnach gar nicht so fern von Ellas unwillkürlich vorgenommener Einschätzung, es handele sich bei mir um einen Shakespeare-Trottel. Das war herausgekommen, weil ich darauf insistiert hatte, uns gegenseitig den nicht unbedeutenden Moment des Sich-zum-ersten-Mal-gesehen-Habens zu beschreiben: Ja gut, sagte Ella, durch die Fensterscheiben sah ich dich und deinen Begleiter beim Verlassen des Cafés und dachte spontan, okay, zwei Shakespeare-Trottel auf dem Weg zu ihrem Nachtlager. Shakespeare-Trottel also – offensichtlich wollte sie mir den Gefallen nicht tun, ganz deutlich zwei oder doch wenigstens einen Shakespeare-Schurken gesehen zu haben, nämlich mich. Meine schwarzwollene Strick-Mütze paßte so wenig zu Richard III . wie der Schlapphut des Mittfünfzigers neben mir, einem sauklugen Medientheoretiker, dem ich im Moment ihres Herausschauens von draußen hineinschauend das hopperartige Bild erklärt hatte … eine Frau im fast leeren Spätcafé, leicht verzweifelt, bodenlos, unterwegs mit nichts als ihrem Terminkalender, ihre nervöse, in der Einsamkeit wachsende Forderung, es möge möglichst bald Entscheidendes passieren … möglichst sofort … eine tatbereite Frau … in dieser Nacht … und einer, noch unentdeckt im Raum, würde in den allernächsten Momenten hinter der Wand hervortreten, ihr in bester Stimmung den Vorschlag machen, in ein anderes Lokal, eine Nachtbar, zu wechseln … ein kleiner, geiler Mann im Spätcafé, voller Flair und Flöten und mit … spätestens morgen früh … geröteten Bißmalen am Hals, wie der grienende Paul sie am folgenden Abend am Tresen vorzeigte.
     
    Tatsächlich war es jenseits ihres theatralischen Überlegenheitsgetues innerhalb weniger Tage gelungen, Ella in die Hände zu bekommen, sie nach einigen enggeführten Szenen aus ihrem bis dahin laufenden Stück herauszulösen und ihr eine neue Rolle nahezulegen – als meine neue Freundin, die sich wie frühere neue Freundinnen auf mich als Person einstellen lassen sollte, so wie’s von mir gewöhnlich und lebenslang gehandhabt worden war, mit dreißig, vierzig oder auch mit fünfzig Jahren …
     
    Aber du bist sechzig, meine Güte, sechzig!
     
    Das hatte sie beim ersten Treffen über den Tisch gerufen, nachdem ihr im anfänglichen Wortgeplänkel ein Verdacht in den Kopf gekommen war und sie, überzeugt vom Zutreffen ihres Schätzwertes, in ein langes, lautes Lachen ausgebrochen war … ja, sechzig, ja, ja, du bist sechzig.
    Na dann geh ich kurz mal zur Toilette, sagte ich, und wenn ich in zwei Stunden nicht zurück bin, ruf bitte den Notarzt.
     
    Ein verdammt gläserner Augenblick jedenfalls, der erst mal ausgehalten werden wollte. Wie groß dürfte Ellas Erstaunen über diese unverhofft ins Spiel gebrachte Zahl gewesen sein? Wie tief der Schrecken, wie klar das Erkennen möglicher Vor- und Nachteile? Wie weit durchschaute sie einen Ertappten, der sich mit deckenwärts verdrehten Augen und pendelndem

Weitere Kostenlose Bücher