Gutgeschriebene Verluste - Roman mémoire
Öffentlichkeit das Synonym »Ein von Menschenhand verursachtes Unglück« verwendet werden.
Dann am Abend sehr junge Studenten, sehr wenig älteres Kulturpublikum, wohl an die zweihundert Zuhörer, als die Gesprächsteilnehmer an der Stirnseite des Raums Platz nahmen – zu meiner Linken der Präsident der Bodensee-Universität, zu meiner Rechten Peter von der RAF . So wollte es die von werweißwem ausgeknobelte Sitzordnung der Runde, einer länglichen Reihe mit den rechtzeitig eingetroffenen SDS -Sprechern, dem Kinderladen-Gründer, einem Historiker und dem Moderator Rudolph. Verdammt eng beinander saßen wir da, paßten nun doch auf ein Foto, der SDS , die RAF und ich … obwohl seinerzeit alle linken Gruppen die subkulturelle Szenerie samt Hippies verachtet hatten. Meine Nervosität wuchs mit jedem Statement der vor mir Befragten – von Haus aus allesamt podiumsgestählte Leute. Soweit ich mitbekam, wurde vom früheren SDS -Sprecher Thomas über die Situation des Vietnamkriegs, die vermufften Universitäten und die von älteren Nazis unterwanderten Gerichte und Behörden berichtet – und das so eindringlich, als müßten alle im Raum sofort etwas dagegen unternehmen. Die Pflicht eines Revolutionärs wäre das Machen der Revolution … die Unterstützung der Befreiung der Arbeiterklasse durch die Arbeiterklasse. Dem pflichtete zunächst jeder bei – damals in den Kellerrestaurants so wie heute in den Seminarräumen. Mit ihren quälend langen Redeflüssen, dachte ich, hatten Leute wie Thomas andere Leute in den siebziger Jahren agitiert und zum stummen Hockenbleiben gebracht – wo eigentlich nur der nächste Kick, der nächste Fick zählte, bevor die Kneipe Feierabend machte. Welchen Mittzwanziger jedoch interessierte die dichotomische Sicht der Arbeiterschaft auf die Gesellschaft? Wer scherte sich um den Zeitsinn der bereits schlafenden Unterschicht? Wer wollte denn um Mitternacht darüber reden, daß dem Proletariat das bürgerliche Denkmuster der aufgeschobenen Befriedigung, des Wartenkönnens auf späteren Gewinn, fremd zu sein schien? Ich nicht, nicht zu der Zeit. Für die absolut diskussionswürdigen Liebeskonflikte der einzelnen, für deren chaotischen Kopf voller Suff und Kino hatten die Poli-Trucks in ihren schwarzen Ledermänteln nur ein verächtliches Lächeln.
Und hier und jetzt, dreieinhalb Jahrzehnte später, dozierte der von weither eingeflogene Thomas noch einmal im selben Tonfall des Ambestenwissens … Noch einmal verfiel er in den für mich fast traumatisch unterdrückerischen Gestus seiner moralischen Überlegenheit – ganz abgesehen von der Ironie, daß ich, über die Jahrzehnte gewandelt, die meisten der Erkenntnisse und Forderungen heute für ganz richtig hielt, so wie sie hier vom SDS wiederholt wurden. Eine prophetische Minderheit war’n die schon damals … voller Verdienste … wie die naturverliebten Blumenkinder auch, dachte ich, ohne Hippies kein Öko, kein sanfter Tourismus … Bis meine Gedanken wieder davonliefen, weg aus der historischen Runde und zurück in die Gegenwart, in das neuerliche Beziehungsdrama mit einer Frau wie Ella, die von all den in mir rumorenden, quälend unvollendeten Erfahrungen nicht die geringste Ahnung hatte.
Aber welchen meiner früheren Irrtümer sollte ich hier mit fünf Minuten Redezeit verteidigen? Den radikalsten, als Totalverweigerer der materialistisch orientierten bürgerlichen Gesellschaft den Rücken zu kehren und so frei wie möglich von deren Konventionen zu leben? Den schönsten, der alle Macht den Drogen und dem freien Spiel der sexuellen Kräfte überlassen wollte? Oder den naivsten, eines Tages als Schriftsteller sein Leidkapital in einen Roman verwandeln zu können? Nach den ersten Wortmeldungen sah ich mich schon im peinlichen Schweigen eines überflüssigerweise Eingeladenen verkümmern … eines Sinn- und Unsinn-Verweigerers, der dem Publikum keine Erinnerungsplätzchen zu knabbern geben wollte, der nicht mal eine Maultrommel aus der Hosentasche ziehen konnte, um die Melodie von how many roads zu zuzeln … Da pfiff ein gealterter Kader wie der Thomas vom SDS sein historisches Lied wahrlich besser … wobei sich der noch ausreichende Schwung wahrscheinlich dem Selbstverständnis verdankte, wenigstens einmal im Leben auf der richtigen Seite gestanden zu haben. Um seine Rede zu illustrieren, holte er eine streichholzschachtelgroße Mao-Bibel hervor und präsentierte sie dem Saal – mit priesterlichen Schwenks in drei
Weitere Kostenlose Bücher