Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Gutgeschriebene Verluste - Roman mémoire

Gutgeschriebene Verluste - Roman mémoire

Titel: Gutgeschriebene Verluste - Roman mémoire Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Suhrkamp-Verlag <Berlin>
Vom Netzwerk:
zu entführen. Ihr war bekannt geworden, daß der Mann im Auftrag der Nationalsozialisten während des Zweiten Weltkriegs in den besetzten osteuropäischen Ländern Arbeitskräfte für die Industrie im Reich beschaffen sollte – und zwar hochqualifizierte, in Rüstungsfabriken einsetzbare Facharbeiter. Der junge, bereits im Management tätige Herr hatte diese Aufgabe bestens gelöst und in kürzester Zeit die geforderte Anzahl von fünfzigtausend Menschen beigebracht. Sie arbeiteten bis zum Kriegsende im Reich. Laut Peters Erzählung wäre bei den Nachforschungen herausgekommen, daß nur wenige Hundert von ihnen wieder in ihre Heimat zurückgekehrt, die überwiegende Mehrheit aber spurlos verschwunden und höchstwahrscheinlich ums Leben gekommen war. Die Nachforschungen hätten weiterhin ergeben, daß die bundesdeutsche Justiz diese nicht ganz unbekannte Tatsache weder zu untersuchen noch anzuklagen gedachte. Ganz im Gegenteil – der Schuldige am Verschwinden dieser knapp fünfzigtausend fungierte Mitte der siebziger Jahre unbescholten in einer hochrangigen gesellschaftlichen Position. Daß sein Verbrechen offenbar ungesühnt bleiben sollte, erklärte Peter, hätte die RAF -Mitglieder zutiefst empört und schließlich zu ihrem Entschluß gebracht.
     
    Wem würde das nicht einleuchten, flüsterte ich meinem Nachbarn zur Linken zu.
     
    Aber bitte, sagte Peter von der RAF , das bedeutet selbstverständlich nicht, daß wir das Recht gehabt hätten, in Form einer Selbstjustiz das zu tun, was wir getan haben.
     
    Die Diskussion war etwas ermüdend gewesen, neue Aspekte hatten sich kaum ergeben. Die Fragen gingen nahezu ausnahmslos an Peter, einige der Antworten gab allerdings der Historiker, der besser zu wissen schien, an welchem Morgen welches wichtige Kassiber der Gruppe von wem auf welchem Weg durch den Knast zu wem geschickt wurde, um die und die Information zu übermitteln – an den wesentlichen Tatsachen änderte sein Forschungseifer nichts. Erst spät kam für Momente Unruhe auf, erzeugt durch einen Studenten in den hinteren Reihen. Der hatte Peter gefragt, welchen Rat er einem jungen Menschen geben könnte, der gerade vor der entscheidenden Gewissensfrage stünde, sich einer bewaffneten Widerstandszelle anzuschließen oder nicht. Peter sagte, abwarten und gut überlegen. Der leicht erregt wirkende, rotblonde Mann wurde – wenn ich das richtig gesehen hatte – von Kommilitonen und Offiziellen unter seinem schwachen Widerstand langsam, aber entschieden aus dem Saal gedrängt.
    Unser einziger schwieriger Student, erklärte der Moderator nach Ende der Diskussion, der Junge hat psychische Probleme, er ist seit einiger Zeit in Behandlung.
     
    Vor dem abschließenden Abendessen legte ich mich für eine Viertelstunde aufs Bett. Vom Gespräch angeregt, fiel mir eine Geliebte aus den hier diskutierten Jahren ein, eine hochdramatische Person, meine erste ernsthafte Liason nach der Trennung von Régine. Anfang der Siebziger, radikale, rasante Zeiten, Männlein und Weiblein gingen kneipenhart miteinander um … sie immer mittenmang, eine linksdrehende Bürgertochter, ein Unternehmerkind, das mit der Familie brach, um als Sozialarbeiterin und verwilderungsbereiter Nachtmensch zu agieren, zu agitieren. Neu im Leben unterwegs, nach Ende der monogam-häuslichen Régine-Periode, wurde mir diese Anfangzwanzigerin von einer soeben kennengelernten Clique quasi zugeordnet – ein gruppendynamischer Prozeß, eine Sitte, man mußte nur in eine Clique hineinkommen, um sich dort durchvögeln zu dürfen und damit ganz revolutionär die Welt zu verändern, die Welt dieser Clique jedenfalls. Ein Hamburger Jung namens Minski hatte mich da reingebracht, ein auffälliger Kerl, mit Felljacke und schlampig imitierter Hendrix-Frisur, der ständig mit leergetrunkenen Rumgläsern um sich warf … Mir unterstellte er offenbar finanztechnische Qualitäten und sagte gleich als erstes einen Baader-Satz: Komm, laß uns zusammen ’ne Bank machen. War eher surreal gemeint von ihm, aber ich war im Spiel, dank Gerd Minski, meinem Vorgänger bei ihr – einer grünäugigen Schönheit mit slawisch hohen Wangenknochen, die in der Kneipe spätestens nach dem dritten Wein mit beiden Händen ihre wunderbare brünette Haarpracht hochwuschelte und lautstark provozierend den Raum eroberte … Cosinus hieß die Kneipe, Doro hieß die Schöne, ja, auch Psycho-Doro, für mich die erste Frau, die mit Wein im Bauch ungeheuer dynamisch wurde und wie neu frisiert,

Weitere Kostenlose Bücher