Gutgeschriebene Verluste - Roman mémoire
einer Rätselbirne am Küchentisch zurück – ein stundenlang anhaltender Wirrwarr an Gedanken, der die Konzentration auf die Arbeit am fälligen Radiokommentar verunmöglichte. Kein Zweifel, unsere Streitereien nahmen zu, das von Ella nach ausweglos erscheinenden Disputen spontan und unaufhaltsam durchgezogene Verlassen des jeweiligen Ortes der Handlung gehörte zu ihrem Verhaltensrepertoire und wiederholte sich entsprechend oft, zu oft. Was mochten die Gründe dafür sein? Welche wann, wodurch und mit wem gemachten Erfahrungen brachten sie zu diesen geradezu haßerfüllten Eruptionen mit anschließendem Fluchtimpuls? Sie erzählte wenig aus ihrem früheren Leben, hielt sie es doch, wie sie einmal sagte, für falsch, sich gegenseitig mit den Höhe- oder Tiefpunkten der Vergangenheit zu behelligen … Nur hin und wieder mal ein Halbsatz über einen Ex-Geliebten, langlang her, der junge Gitarrist zu Kölner Zeiten, der junge Bremer Fotograf, langlang her, verflogen der jüngste, sich nach langem Darben gegönnte Engel … Und die letzte, knapp drei Jahre zurückliegende Beziehung schien ihr keine drei zusammenhängenden Sätze wert zu sein, sondern nur kurze Verfluchungen – ein Schwein, der Mann, mit dem sie fast zwei Jahre zusammengewohnt hat, ohne daß sie diesen Lebensabschnitt oder die Gründe für die Beendigung auch nur annähernd erklären wollte. Es ging mir weniger um delikate Einzelheiten, ob etwa einer ihrer Kerle fünfmal am Tag gekonnt haben könnte (was dennoch zu kurzen Stimmungstiefs meinerseits geführt hätte) – auch weniger um die von ihr gemachten Erfahrungen als darum, was von ihr aus diesen Erfahrungen gemacht worden war …
Diese verdammten Träumereien … bei ihr wie bei mir … die Vorstellungen vom Glück, daß endlich ein Mensch erscheinen möge, der gut fände, wer ich bin, was ich tue, denke und will … Doch auch an diesem Vormittag versackte ich in den sich wiederholenden Delirien der Deutung, verwirrt und verwundert – so wie einige Nächte zuvor beim Betreten des Schlafzimmers mit einem Stück Schokolade im Mund, worauf Ella, die bereits eingeschlummert schien, mit einer Zurechtweisung hochfuhr: Wenn die Geliebte im Bett liegt, darf ein Mann auf keinen Fall Schokolade essen! Ja klar, versteht sich. Mittlerweile begann ich zu ahnen, daß Ellas partnerschaftlicher Verhaltenskatalog der umfangreichste aller bisher gekannten Frauen war; konsequent nach der Maxime, wer mich lieben will, muß auf andere Beschäftigungen verzichten und sollte niemals vergessen, morgens sein Lächeln richtig einzustellen. Um den Erfordernissen einigermaßen standzuhalten, mußte ich – wie stets in Zeiten von Verliebtheit – so einiges lesen, lesen und nochmals nachlesen. Wer beim Gegenüber im Trüben fischte und nicht weiterkam, konnte sich anhand wissenschaftlicher Texte oder Charakterstudien orientieren und zumindest für Momente das ihm zutreffend Erscheinende in die Hand bekommen; etwas über Hysterie aus dem 19 ., über Double-Bind-Muster aus dem 20 . und über Spiegelneuronen aus dem 21 . Jahrhundert. Der Grundzug der hysterischen Persönlichkeit zum Beispiel ist laut Ludwig Klages das Bedürfnis, vor sich und anderen als mehr zu erscheinen, als man sei – an die Stelle des ursprünglichen, echten Erlebens träte dann »ein gemachtes, geschauspielertes Erleben«, aber nicht etwas »bewußt gemachtes«, sondern mit der Fähigkeit (der eigentlichen hysterischen Begabung), ganz im eigenen Theater zu leben, im Augenblick voll dabei, und daher mit dem Schein des Echten … Frühe Psychologie, im Moment für mich absolut nachvollziehbar – so eine Lesefrucht jedoch nur ansatzweise am Küchentisch anzubieten, würde die heftigste Gegenwehr auslösen! Das galt auch für die Nacherzählungen von den unbewußten, meist unbemerkten Kämpfen in unseren, speziell den schwächeren männlichen Neuronenverbänden, wie sie Giacomo Rizzolatti beschrieb; entscheidend für die gelingende Empathie sei demnach das frühe Spiegeln der Emotionen von null weg bis zum vierten Lebensjahr, also in der Phase, als ich ohne Mutter war, ohne Frau fürs Spiegeln der Gefühle … Konnte man sich alles im Bildungsfernsehen der hinteren Kanäle ankucken, die Probleme der Bindungsfähigkeit, die Konflikte zwischen den verschiedenen Hirnteilen, einer hat Hunger, der andere sorgt sich ums Dickwerden, ein Haufen Neuronen will Liebe, der andere lieber das Selbst davor schützen, und der Zellverband, der am Ende gewinnt, liebe
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