Gutgeschriebene Verluste - Roman mémoire
verwirklicht? Nein, auf keinen Fall. Ich wollte schon immer jemand sein, den andere vertrauensvoll ansteuern, um ihm wichtige Dinge zu erzählen. Und hier war’s mal wieder passiert. Währenddessen löste sich die Abendgesellschaft langsam auf, einige Gäste waren bereits gegangen, andere verzögerten ihren Aufbruch noch durch letzte Gespräche im Stehen. Die beiden Professorinnen hatten den langen Weg von der anderen Tischseite herüber zu unserem Platz gemacht, um sich zu verabschieden. Sie beugten sich hinunter zum sitzengebliebenen Peter, wobei eine der Frauen mit überraschend inniger Geste ihre Stirn momentelang an seine Schläfe lehnte, ehe die zweite dezent seine schmalen Schultern streichelte. Beide bedankten sich für sein Kommen und wünschten ihm alles erdenklich Gute – auch für seine zukünftige Arbeit. Schließlich drückten sich alle drei ausführlichst die Hände, eine mir günstig erscheinende Situation, mich ebenfalls zu verabschieden. Ich gab den Frauen und ihm die Hand, winkte noch einigen anderen im Raum zu und ging.
Minuten später mit hormonellem Überschuß im Kopf in meinem Doppelzimmer herumzustehen war mir an diesem Abend noch verhaßter als bei sonstigen Gelegenheiten. Ein adrenalingetriebenes, nachbereitendes Denken setzte ein, das einzelne Szenen der soeben vergangenen Veranstaltung wie beim Vor- und Rückspulen einer Videoaufzeichnung wieder und wieder ins Gedächtnis rief. Die übertrieben detaillierte, geradezu manisch masochistische Selbstbefragung, dieser verfluchte Pop im Kopf, wollte und wollte nicht enden – was war hier richtig, was falsch, was hatte ich gesagt, was hätte ich besser nicht gesagt, und was wäre hier heute unbedingt zu sagen gewesen? Nichts und niemand konnte einem dann mehr durch die Nacht helfen. Blieb nur die Möglichkeit, den Fernseher einzuschalten.
M orgens beim Aufräumen in der Küche fand ich eine an den Rändern mit Bleistift beschriebene Zeitungsbeilagenseite »Museum für Naturkunde«, auf die Ella während unseres nächtlichen Streits Gesprächsfetzen notiert hatte. Viel war’s nicht, einzelne Wörter, einige Halbsätze und Kritzeleien, eine Art Schirm, eine Pusteblume vielleicht, die Schrift in gerahmten Kästchen … »Genug zu tun – du tust gar nichts – ich gehe die ganze Zeit auf dich ein – Klären – du hast mich hierhergeholt – alles faule Tricks – durch den ganzen Scheiß durchkommen – U-Bahn – Vergehen Wochen – du machst mich nur fertig.« Das Blatt auf den Kopf gestellt, folgten weitere Sätze: »Ich konnte nichts mehr ertragen – ich war alle – Du kannst Nähe aushalten – Überheblich Selbstüberhebung – Du hast jetzt genug geätzt – Textmengen«. Die Zitate ihr oder mir zuzuordnen war bei dieser Art Pärchensprache nicht so einfach. Bis auf einen Satz, von mir vor Stunden gesagt und jetzt wieder erinnert – »Das Verhältnis zwischen Tat und Gedanke ist: Dialektik.« Ein offenbar aus der Tiefe des Theoriefundus an schwierig gewordener Diskussionsstelle hochgekommener Satz, die noch nachgeworfene Bemerkung ›erotische Dialektik‹ wurde nicht notiert. Statt dessen hatte Ella unter der Überschrift »Konkrete Utopie« einen letzten, vermutlich von ihr stammenden Satz geschrieben: »Der Gedanke ist nur mächtig, wenn das, was er meint, getan wird …«
Sie hat’s getan. In der vergangenen Nacht gleich dreimal – zwischen Mitternacht und frühem Morgen verließ sie aufgrund eines mächtigen Gedankens dreimal meine Wohnung und kehrte aufgrund eines anderen mächtigen Gedankens dreimal nach einer halben oder vollen Stunde wieder zurück. Jedem dieser Abschiede ging ein kurzes, heftiges Wortgefecht voraus, bei jeder Rückkehr aus der nachtdunklen Nachbarschaft sanken wir uns in die Arme, wobei sich bei beiden zunächst kein Interesse auf Fortsetzung des abgebrochenen Streits zeigte. Mal überwog die Freude über ein nicht unbedingt so schnell erwartetes Wiedersehen, mal legte einer dem anderen den Finger auf den Mund, wenn das kontroverse Thema und der fluchtauslösende Grund nur ansatzweise hochzukommen drohte, und jedesmal wurde innig geküßt und nach der beiderseitigen Mimik des Entschuldigens und Verzeihens erleichtert gelacht … Doch erst nach der dritten Flucht schien Ellas versöhnend gemeinte Rückkehr die für diese Nacht letzte zu sein – womöglich begünstigt von unser beider Müdigkeit.
Nachdem Ella am Morgen ohne Schlaf zu ihrem Job gegangen war, blieb ich einmal mehr mit
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