Gwydion 02 - Die Macht des Grals
Neffe begleitet haben. Sein Name war Jesus.“
Gwyn verschlug es die Sprache.
„Als Jesus am Kreuz gestorben war, wurde er in einem Grab beigesetzt, das seinem Onkel gehörte. Nun ja, drei Tage später war der Leichnam fort.“
„Auferstanden von den Toten“, murmelte Gwyn. „Das Osterfest!“
„Joseph gründete eine der ersten christlichen Gemeinden“, fuhr Merlin fort. „Die Römer sahen in ihm jedoch nur den Anführer einer gefährlichen Sekte und verfolgten ihn. Um sich und seine Getreuen zu retten, floh er schließlich.“
„Nach Cornwall?“, fragte Gwyn ungläubig.
Merlin nickte. „Doch er kam nicht mit leeren Händen. Im Gepäck hatte er den Kelch, aus dem Jesus und seine Jünger beim letzten Abendmahl getrunken haben. Joseph wusste, was für einen machtvollen Schatz er besaß. Er brachte ihn an einen sicheren Ort und beschrieb den Weg in verschlüsselter Form in seinem Buch.“
„Darf ich es einmal sehen?“, fragte Gwyn vorsichtig.
Merlin stand auf und führte Gwyn zu einer Tür, die verborgen im Dunkel des Raumes lag. Als der alte Mann sie öffnete, fiel Gwyns Blick auf eine weitere Treppe, die nach oben führte. Gwyn war überrascht. Er hatte gedacht, dass sich Merlins Gemächer in der Spitze des Turms befanden, und nun musste er feststellen, dass darüber noch mindestens ein Raum lag, den man nur durch Merlins Gemächer betreten konnte.
Gemeinsam stiegen sie einige altersschwache Holzstiegen empor. Oben angekommen schob Merlin einen Vorhang beiseite und ließ Gwyn den Vortritt. Was er dann sah, verschlug ihm die Sprache.
Dutzende von Regalen reichten hinauf zur hohen Decke, und jedes einzelne war angefüllt mit losen Blättern, Pergamentrollen und gebundenen Büchern. Die einzelnen Fächer waren mit Zahlen und Buchstaben beschriftet, deren Bedeutung sich Gwyn jedoch nicht erschloss.
„Das hier ist Camelots größter Schatz“, sagte Merlin. „Seine Bibliothek.“
Gwyn sah sich staunend um. Obwohl viele der Schriften Hunderte von Jahren alt sein mochten, lag keinerlei Staub auf ihnen. Jemand schien sich regelmäßig um sie zu kümmern. Merlin führte Gwyn durch einen Gang zu einem Tisch. Im Schein einer Laterne lag das scharlachrote Buch des Joseph von Arimathäa vor ihnen.
„Darf ich es anfassen?“ fragte Gwyn ehrfürchtig.
„Nur zu. Aber sei vorsichtig, meine Bibliothekshilfe hat die fehlenden Seiten noch nicht mit eingebunden.“
Mit klopfendem Herzen nahm Gwyn den dicken, in dunkelrotes Leder gebundenen Band in die Hand und schlug ihn mit spitzen Fingern auf. Etwas, was wie die Fußspuren eines betrunkenen Tausendfüßers aussah, stand auf der ersten Seite.
„Das ist das Vaterunser auf Aramäisch, der Sprache, die man zur Zeit Jesu in Palästina sprach“, erklärte Merlin. „Es hat einige Zeit gedauert, bis ich herausgefunden hatte, was es bedeutet. Ich vermute, Joseph von Arimathäa hat dieses Gebet als eine Art Schlüssel vorangestellt. Nachdem ich es entziffert hatte, erschloss sich mir nach und nach auch der Rest des Buches.“
„Himmel, muss ich diese Sprache etwa auch lernen?“, fragte Gwyn entsetzt.
„Es besteht kein Zwang, etwas lernen zu müssen“, sagte Merlin auf einmal kühl. „Du musst die Bereitschaft dazu haben, dich dem Neuen zu öffnen. Ohne diese Neugier wirst du es nicht sehr weit bringen.“
Gwyn, dem die leise Schärfe in Merlins Stimme keineswegs entgangen war, schluckte. „Neugierig bin ich“, versicherte er schnell.
„Oh, ich weiß. Das hast du mit deinen Fragen bewiesen“, sagte Merlin nun wieder in freundlichem Tonfall. „Du wirst in deinem Unterricht mit ganz simplen Dingen beginnen. Zunächst einmal lernst du das Alphabet anhand einfacher lateinischer Begriffe.“
„Wie oft werde ich Unterricht haben?“, fragte Gwyn.
„Jeden Tag. Und damit beginnt unser Problem. Ich werde nicht immer Zeit für dich haben. Deswegen wird dich meine Bibliothekshilfe unterweisen.“
Gwyn hörte hinter sich ein Rascheln und drehte sich um. Sein Mund klappte auf und die Augen wurden groß, als er sah, wer in den nächsten Wochen und Monaten seine Lehrerin sein würde.
„Ich brauche euch ja nicht vorzustellen“, sagte Merlin.
„Nein, das braucht Ihr in der Tat nicht“, murmelte Gwyn. „Wir kennen uns.“
Vor ihm stand Katlyn, Aileens Zofe.
„Ich würde mit den Lehrstunden gerne am späten Nachmittag beginnen. Ist dir das recht?“, fragte Katlyn.
„Ja, das ist eine gute Idee. Wo werden wir uns treffen?“
Katlyn dachte nach.
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