Gwydion 02 - Die Macht des Grals
„Sir Kay hat Recht. Diese Regel gibt es wirklich.“
„Also gut“, sagte Artur. „Das Turnier wird auf den Johannistag angesetzt. Die Versammlung ist beendet.“
Ohne Guinevra auch nur eines Blickes zu würdigen, stand er auf und verließ den Saal.
Wie erschlagen lehnte sich Gwyn an die Wand des Geheimgangs und versuchte zu verstehen, was er und Aileen gerade gesehen hatten. Nur um Haaresbreite war die Tafelrunde an diesem Tag ihrem Ende entgangen. Gwyn hatte zwar geahnt, dass es widersprüchliche Ansichten über Sir Lancelot gab, doch dass der Riss so tief durch die Ritterschaft ging, war erschreckend. Es schien, als hätte Artur an diesem Tag nicht nur die Gefolgschaft seiner Männer verloren, sondern auch die von Guinevra, die auf dieser Versammlung nicht ein einziges Mal das Wort ergriffen hatte. Doch ihren Standpunkt hatte sie durch ihr Verhalten bei der Abstimmung nur allzu deutlich gemacht.
Auch Aileen, die bei weitem nicht so schockiert schien wie Gwyn, schwieg nachdenklich. Schließlich sprach sie das aus, was Gwyn noch nicht einmal zu denken wagte. „Ich schätze, wir haben heute den Anfang vom Ende Camelots erlebt.“
„Um Himmels willen, sie hätten sich beinahe umgebracht!“, sagte Gwyn, der noch immer nicht fassen konnte, was er soeben gesehen hatte.
„Ich glaube, dass Tristan in seiner Einschätzung richtig liegt: Artur hat es versäumt, sich rechtzeitig um einen Nachfolger zu kümmern.“
„Aber ich denke, Rowan wäre…“
„Vergiss Rowan“, schnitt ihm Aileen barsch das Wort ab. „Es wird ihm niemals gelingen, aus dem Schatten seines Vaters zu treten. Dazu fehlen ihm dein Mut, dein Scharfsinn und deine Durchsetzungskraft.“
Jetzt musste Gwyn lachen, obwohl ihm überhaupt nicht danach zumute war. „Ich und Durchsetzungskraft? Aileen, du hast ein vollkommen falsches Bild von mir.“
„Gwyn, hör auf, deine Bescheidenheit wie einen Schild vor dir her zu tragen. Wem ist es denn gelungen, unter den widrigsten Bedingungen in den Kreis der Knappen aufgenommen zu werden? Alle anderen wurden mit einem goldenen Löffel im Mund geboren, doch du hast es ganz alleine geschafft, durch deine Beherztheit und deinen Scharfsinn. Wer hat Camelot im entscheidenden Moment vor den Sachsen gerettet? Das warst du. Ohne deinen brillanten Einfall wären wir jetzt alle tot! Und wer hat als Einziger den Mut gehabt, mich aus dem Lager der Sachsen zu befreien? Artur? Sir Kay? Rowan? Nein, es war ein namenloser Schweinehirte aus Cornwall, der sein Leben für mich aufs Spiel setzte. Wenn es also einen geborenen Führer gibt, dann bist du das.“
Es dauerte einen Moment, bis Gwyn verstand, was Aileen mit diesen Worten sagen wollte.
„Du bist verrückt“, sagte er.
„Bin ich nicht! Nur du kannst nach Arturs Tod seinen Platz einnehmen.“
Gwyn entwand sich ihrem Griff. „Ich will diesen Unsinn nicht hören.“
„Was glaubst du, wie alt Artur war, als er Excalibur aus dem Stein zog? Er war zwölf! Die Anzahl gelebter Jahre spielt überhaupt keine Rolle, wenn es darum geht, dem Ruf des Schicksals tu folgen. Gwyn, du bist etwas Besonderes! Das darfst du nie vergessen!“ Sie gab ihm einen Kuss auf die Wange. „Ich muss jetzt wieder zurück, bevor mein Großvater bemerkt, dass ich meine Gemächer verlassen habe. Wir sehen uns wieder.“
Bevor Gwyn etwas erwidern konnte, war Aileen schon den Schacht hinabgeklettert und in der Dunkelheit verschwunden. Gwyn konnte es nicht fassen. Hatte die Prinzessin jetzt ebenfalls den Verstand verloren oder was hatte dieses Gerede zu bedeuten? Er und König auf Camelot? Was für ein ausgemachter, ja geradezu gefährlicher Unsinn! Und dennoch schien Aileen selbst daran zu glauben.
Plötzlich spürte er, wie es ihm kalt den Rücken hinunterlief, als er die Konsequenzen bedachte, die sich aus ihren Überlegungen ergaben. Wer immer den Thron besteigen wollte, konnte das nur tun, indem er eine Verbindung mit ihr einging. Sie selbst konnte nicht Königin werden. Seit der legendären Keltenfürstin Boudicca hatte es in Britannien keine Frau mehr auf einem Herrscherthron gegeben.
Gwyn schluckte. Rowan hatte Recht gehabt: Sir Kays Sohn schien in Aileens Leben keine Rolle mehr zu spielen. Sie schien sich einen anderen Helden ausgesucht zu haben: ihn.
Ein Held fällt tief
Es war erstaunlich, wie die Ritter nach dieser verheerenden Versammlung einfach wieder zur Tagesordnung übergingen. Keiner der Knappen ahnte während des Unterrichts, dass es an der
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